Ein weiblicher, friedvoller Buddha ist im tibetischen Buddhismus die Grüne Tara, die Befreierin. Eine auf sie ausgerichtete Praxis kann helfen, Veränderungsprozesse anzunehmen, Vergangenes loslassen und sich auf Neues einstellen.
Einmal habe ich die westfälische Stadt Münster besucht. Das Wetter war regnerisch, ein wenig stürmisch, und hielt doch niemanden davon ab, unterwegs zu sein. Vor allem auf der sogenannten Promenade, die wie ein Ring mitten in der Stadt verläuft, lässt es sich prima unter hohen Bäumen spazieren gehen, und ein breiter Streifen ist für die vielen Radfahrenden reserviert. Dieser grüne Gürtel um die alte Innenstadt war zu Kriegszeiten im 13. Jahrhundert ein Verteidigungswall gegenüber Fremden. Heute wirkt die Grenze von vor über 700 Jahren eher wie eine inspirierende Zukunftsvision für Mobilität in Städten. Auch in meiner Heimat Berlin gehe ich mehrfach in der Woche einen kleinen Fußweg entlang, der quer durch drei Stadtteile führt. Ich laufe auf dem alten Mauerstreifen. Metallmarkierungen im Boden verweisen auf die verschiedenen trennenden Funktionen der ehemaligen Grenze, die mitten durch die Stadt verlief. Vor allem frühmorgens hat der Weg mit den eindrücklichen, dokumentarischen Fotos immer noch etwas Bedrückendes. Zu frisch scheint die Wunde, zu viel Schmerz hängt noch daran.
Was die Grüne Tara lehrt
Die letzte Zeit hat auch für mich eine Umstrukturierung des Alltags mit sich gebracht. Ein Umzug, neue Beziehungen und alte, die sich ändern. Immer noch bin ich dabei, Neues zu entdecken. Das Loslassen alter Strukturen und Ressourcen ist schmerzvoll, zumal sie sich offensichtlich nicht ins neue Leben mitnehmen lassen. Im tibetischen Buddhismus wird die Grüne Tara zu allen neuen Unternehmungen angerufen. Im Tibetischen heißt sie Drölma, die Befreierin. Sie soll die heilsame Energie in allen Veränderungsprozessen unterstützen, vor Gefahr schützen und von Ängsten befreien. Die Tara-Praxis bietet da eine ganze Reihe Übungen, die einfachste und alltagstaugliche ist, an Tara zu denken und ihr Mantra zu sprechen. Eine der vielen Gefahren, vor der Tara schützt, ist Gefangenschaft. Im übertragenden Sinne bedeutet es, an dem festzuhalten, was vergangen ist. Um das tun zu können, bedarf es meiner jetzigen Erfahrung nach mehrerer Bedingungen: zum einen anzuerkennen, was an dem alten, vertrauten Zustand gut war. Es gibt ja Gründe, warum wir die vergangene Beziehung, die vergangenen Bedingungen nicht loslassen wollen.
Zum anderen ist Akzeptanz wichtig, dass die Situation jetzt eine andere ist. Früher war sie heilsam, nun hat es sich anders entwickelt. Statt Sicherheit und Wohlwollen gibt es jetzt Streit und Abwertung. Statt gesund zu sein, sind wir jetzt mit Schmerzen und Einschränkungen konfrontiert. Es schien eine gemeinsam gestaltbare Zukunft zu geben, jetzt ist heilsame Kommunikation unmöglich geworden.Das alles gilt es anzunehmen. Drittens braucht es eine gute Perspektive, um ins Handeln zu kommen. Bei all diesen Bedingungen kann die Meditation mit Tara helfen. Tara ruht in der Erkenntnis der Leerheit. In meiner Situation und wenn ich an sie denke, erinnert sie mich daran, dass alles vergänglich ist. Dass etwas, was gut und nährend war, es nicht für immer ist. Dass immer neue Zusammenhänge und Bedeutungen entstehen. Sie lädt mich ein, ruhig zu bleiben, wenn sich Emotionen aufwühlend und zum Teil sehr unangenehm in mir zeigen.
Loslassen im täglichen Leben
Die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross hat sich intensiv mit dem Sterben beschäftigt. Sie nennt fünf Phasen des psychischen Erlebens im Sterbeprozess: Nicht-Wahrhaben-Wollen, Zorn, Verhandeln, Depressionen und Zustimmung. In meinem Hadern mit der neuen Lebenssituation bemerke ich, dass auch ich immer wieder diese Empfindungen durchlaufe, obwohl ich bei guter Gesundheit bin. Diese Empfindungen scheinen zum Loslassen zu gehören, auch im täglichen Leben. Die Klarheit, mit der sich das gerade zeigt, ist für mich beeindruckend. Langsam zunächst und schließlich mehrfach am Tag bemerke ich: Unglaube, Wut, Verhandeln und Mutlosigkeit, alles spielt sich in meinem Inneren ab. Phasen von Aufbegehren und ewigen Gedankenschleifen wechseln sich mit dem Gefühl von Wertlosigkeit und Versagen ab.Immer wieder geht es darum, nicht an dem festzuhalten, was nicht mehr trägt. Ein Sterbeprozess im Alltag. Doch dann erlebe ich große Momente der Befreiung, wenn ich loslassen kann und innerlich einen weiteren Schritt in mein neues Leben wage. Geradezu euphorisch entschließe ich mich, all das Alte loszulassen, und der Himmel wird plötzlich sehr weit. Am nächsten Morgen wache ich jedoch wieder mit Unglauben auf. Der Zirkel beginnt von Neuem, etwas weniger heftig, aber deutlich in allen Aspekten. Langsam weicht die Euphorie der Befreiung einem Gefühl von Ruhe und Gelassenheit. Die Zeit hilft, aber ein Schmerz bleibt – bis ich noch mehr loslasse.
Die Reste der Berliner Mauer lösen vielleicht auch deshalb noch Schmerz aus, weil so vieles aus der DDR in seiner Vielgestaltigkeit nicht genügend Wertschätzung erfuhr. Hier geschah der Wechsel zu schnell. Alte Strukturen wurden aufgelöst, von denen manche vielleicht sogar gesünder waren als die neuen. Taras linke Hand ist auf der Höhe ihres Herzens in einer schützenden Haltung. Wenn ich sie visualisiere, schützt sie mein Herz, sodass es in all dem Wirbel ruhig bleiben kann. All diese Emotionen sind Echos meiner alten Interpretationen. Ich kann sie freundlich und geduldig wahrnehmen. Nicht auf sie zu reagieren, indem ich handle, und mich in aussichtslosen Streitereien verliere, entzieht ihnen langsam, aber sicher die Wucht. Mein Herz kann geduldig werden. In mir ist die Erfahrung der zwei deutschen Staaten immer noch. Knapp die Hälfte meines Lebens habe ich nur eine Perspektive wahrnehmen können, die westliche. Erst jetzt merke ich im bewussten Hinschauen und Suchen, wie viel ungesehen blieb in der Freude über die Auflösung des Schmerzhaften und des Unrechts. Die Grüne Tara ist auch mit Großzügigkeit verbunden. Ein Aspekt gewinnt in diesem beobachteten Kreislauf der Emotionen an Kraft: der Gedanke, dass das, was für mich wie Ungerechtigkeit erscheinen mag, für die anderen Beteiligten ganz anders aussehen kann. Vielleicht eine Grenzsetzung, die hilft, das Eigene zu schützen und zu wahren? Ich weiß es nicht. Aber meine Wut hat weniger Wucht in dem größeren Raum, ich muss weniger innerlich verhandeln, und das Gedankenkarussell verlangsamt sich. Die beteiligten Menschen in diesem Prozess werden vielschichtiger sichtbar. Nicht nur als Gegnerinnen, sondern als ehemalige Freundinnen und Kolleginnen.
Kluges Handeln
Meine Spaziergänge in letzter Zeit weisen darauf hin, dass es auch darum geht, Grenzen wertschätzend aufzulösen und eine lebendige, neue Perspektive zu entwickeln. Ich gestehe mir ein, dass meine freien oder unfreien Entscheidungen und Handlungen Folgen haben, nicht nur für mich, sondern auch für andere. Der indische buddhistische Gelehrte Shantideva (7./8. Jahrhundert n. u. Z.) empfiehlt daher, wie ein Stück Holz zu verharren, solange das Herz nicht mit Freundlichkeit und Mitgefühl gefüllt ist. Die Grüne Tara verkörpert auch das kluge Handeln aller Buddhas. Was kann kluges Handeln in einer sich ständig auflösenden und sich neu gestaltenden Situation sein? Ich habe gerade das Privileg, viel Zeit zu haben, diese ganzen Veränderungen zu beobachten. Meinen Geist unterstütze ich dabei, indem ich ihn immer wieder auf das ausrichte, was mich jetzt nährt, wo jetzt Freude und Wohlwollen sind. Das macht das Loslassen etwas leichter. Ich kann auch meinen Blick heben in den weiten Himmel über mir und meine enge, eingeschränkte Perspektive für einen Moment loslassen. All diejenigen, die jetzt ihre Heimat verlassen müssen, vertrieben durch Gewalt, Armut und Krieg, haben keine Zeit, um sich das alles anzuschauen und loszulassen. Sie müssen sich auf all die unvertrauten Anforderungen einstellen, auf neue Kulturen, Regeln und Kommunikationsformen.
Umso wichtiger scheint mir, dass ich meinen Mitwesen, genauso wie mir selbst, mit so viel Gelassenheit und Freundlichkeit begegne, wie nur möglich. Etwas mehr zuhören und bemerken, was ich alles nicht weiß, hilft mir dabei enorm. Und unter hohen Bäumen spazieren gehen, mit lieben Menschen an der Seite, Ruhe im Herzen und dem Tara-Mantra, das sich wie eine grüne Promenade um mein Herz schmiegt: om tare tuttare ture svaha.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung № 124: „Frei Sein!"
Das Mantra der Grünen Tara:
om tare tuttare ture svaha
Om – Erwachen | Tare – Retterin, Stern
Tuttare – oh Tara | Ture – geschwind
Svaha – so ist es
Mit dem Mantra nehmen die Übenden eine Verbindung zur Grünen Tara auf, um sich zu stärken und Kraft zu schöpfen, um sich vor Hindernissen zu schützen.
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