Wahrlich frei zu sein ist nicht von äußeren Umständen abhängig, sondern eine geistige Haltung. Es ist möglich, in jeder Situation frei zu sein, sogar im Gefängnis, wie der bekannte vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh (1926–2022) einmal erklärte. Wir können Freiheit kultivieren.
Ein früher Julimorgen an einem Waldrand irgendwo in Südspanien. Ich öffne die Tür des VW-Busses und trete barfuß in das taufeuchte Gras. Weit unten in der Ebene fahren Autos; in ihnen sitzen Menschen, die zu einem Ort fahren, an dem Pflichten auf sie warten. Wir haben kein Ziel, nur eine Richtung: nach Süden, so weit wie möglich. Vielleicht sogar bis Marokko, mal sehen. Gleich wird mein Freund aufstehen und Kaffee kochen; nach der Pause werden wir Tisch und Stühle zusammenklappen und weiterziehen. Vier Wochen lang werden wir planlos leben und lustvoll Zeit verschwenden. Unsere Jeans sind dreckig, die Füße sind es auch. Wir essen Brot, Käse und Obst, und wenn uns das Geld ausgeht, stellen wir uns an eine Ecke und machen Straßenmusik. Er spielt Flöte, ich singe. Ich bin Mitte zwanzig; für mich sind diese Wochen der Ausdruck ultimativer Freiheit. Der VW-Bus ist längst verschrottet, und ich bin nicht mehr jung. Ich habe soziale Verpflichtungen und muss die Abgabetermine für meine Texte einhalten, um mit dem Honorar die Miete für meine Wohnung zu zahlen. Manchmal habe ich Lust, noch einmal alles hinter mir zu lassen, hineinzufahren in die aufgehende Sonne und nicht zu wissen, was mich erwartet. Aber ich weiß heute auch, dass äußere Ungebundenheit keine Vorbedingung ist, um geistig frei zu sein.
Gehen als freie Menschen
In Hagerstown in den USA liegt die Strafanstalt Maryland. Anfang dieses Jahrhunderts gab der vietnamesische Zen-Meister Thich Nhat Hanh dort mit einigen Nonnen, Mönchen und Freunden für die Gefangenen einen Tag der Achtsamkeit zum Thema Freiheit. Das war ganz schön mutig: einhundert Männern, die zum Teil seit Jahrzehnten hinter Gittern saßen, zu erzählen, dass Freiheit eine geistige Haltung sei, die jeder Mensch einnehmen könne, egal, wo er sich gerade befinde. Sie aßen miteinander zu Mittag, übten Gehmeditation im Hof, und die Insassen bemühten sich zu begreifen, was das bedeutet: „Wenn ihr geht, geht als freie Menschen. Wenn ihr atmet, atmet als freie Menschen.“ Ich habe mein Herkunftswörterbuch nach der ursprünglichen Bedeutung des Wortes „frei“ befragt. Erstaunlicherweise hat es dieselbe indogermanische Wurzel wie das Wort „Friede“ und der „Freund“. Diese drei Worte hatten ursprünglich die Bedeutung „schützen, schonen, gernhaben, lieben“. Die Germanen errichteten auf dem Begriff eine Rechtsordnung und im historischen Ablauf wandelte sich der Begriff zu der heute allgemeinen Anwendung des Adjektivs im Sinne von „ungebunden, unbelastet“.
Wir benutzen das Wort also heute ausschließlich als ein Freisein von etwas: Wir sind endlich losgeworden, was uns so unfrei gemacht hat – den Job, den wir nicht mochten, die toxische Beziehung, die uns geschadet hat. Sich von Fesseln zu befreien, die unsere Entwicklung behindern, ist tatsächlich ein wichtiger Schritt auf dem Lebensweg.
Aber frei zu sein von etwas, ist nur der erste Schritt. Die Frage ist: Wozu nutze ich meine Freiheit? Verwende ich sie in ihrem ursprünglichen Sinn, erwecke ich in mir und anderen Freude und Liebe, schütze und schone ich die Umwelt? Oder verwechsle ich Freiheit mit Willkür und Egoismus, indem ich mir nehme, was ich von Menschen und der Natur haben will?
Der Ursprung des Substantivs Freiheit ist im geistigen Sinn ein „verliehenes Vorrecht“. Tiere in Gefangenschaft können sich nur auf ihre Instinkte verlassen. Wir Menschen haben das Vorrecht, unsere Reaktionen auf das, was uns widerfährt, zu wählen. Klage ich über die Umstände, die mich bedrücken, werde ich wütend oder ängstlich? Oder habe ich die Kraft, meine Konditionierung zu durchschauen und eine andere, heilsamere Antwort zu geben?
Du hast die Wahl
Die Verkörperung der tiefsten Bedeutung des Freiseins ist für mich jener tibetische Abt, der jahrelang in chinesischer Gefangenschaft gewesen war und später sagte, er habe sich einige Male in großer Gefahr befunden. Seine Zuhörer stimmten verständnisvoll zu: Natürlich hätte er jederzeit ermordet werden können. Nein, erwiderte der Abt, seine Gefahr sei eine andere gewesen: „Ich war in Gefahr, das Mitgefühl mit meinen Wärtern zu verlieren.“
Dieser Mönch war im Geist so frei, auf Gewalt und Unterdrückung nicht mit Angst oder Hass zu reagieren, seine Antwort bewusst im Einklang mit seinen Werten zu wählen.
Das ist es, was Thich Nhat Hanh den Gefangenen vermitteln wollte: Du hast die Wahl, über deine Situation zu klagen oder sie bedingungslos anzunehmen und mit deiner geistigen Kraft in dir selbst Frieden und Ruhe zu erschaffen. Und wenn du selbst friedlich und ruhig bist, wird das in heilsamer Weise auf alle ausstrahlen, mit denen du zu tun hast. Auch wir sind manchmal Gefangene, die ihre Umstände nicht verändern können. Ich kenne eine alleinerziehende Mutter zweier kleiner Kinder, deren Partner spurlos verschwunden ist; sie hat Pflichten, die sie oft als Fesseln empfindet. Viele kennen das: Sie überlegen, ihren Beruf aufzugeben, um ihre alte Mutter zu pflegen, weil sich kein Heimplatz findet. Oder sie haben eine ernste Krankheit und können das Bett nicht verlassen. Die äußeren Umstände kommen einer Gefangenschaft nahe, aber geistig können sie dennoch frei sein für eine andere Bewertung der Situation. Wie kann das gelingen?
Frei von Bewertungen
Nehmen wir an, wir wollen innerlich zur Ruhe kommen, und haben uns für einen Meditationskurs angemeldet. Wir sitzen auf dem Kissen, eine Glocke erklingt, und dann wird es aller Erfahrung nach laut. Außen ist es wunderbar still, aber in uns erhebt sich Lärm. Gedanken rasen durch den Kopf, Gefühle melden sich und wollen bemerkt werden, ungelöste Fragen aus der Vergangenheit fordern uns auf, uns mit ihnen zu befassen. Meditation ist anfangs für alle Meditierenden ein Reinigungsprozess: Lange unterdrückte und ignorierte Geisteszustände wollen wahrgenommen und angenommen werden. Wir können kaum glauben, dass es genügen soll, still dazusitzen und allem, was auftaucht, freundlich und ohne Bewertung beim Entstehen und Vergehen zuzusehen. Nichts muss ignoriert werden, nichts abgewiesen, und vor allem sollten wir das Erfahrene nicht zu einer Geschichte ausspinnen.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung № 124: „Frei Sein!"
Gedanken, Gefühle und Emotionen lösen sich irgendwann von selbst auf wie die Wolken am Sommerhimmel. In der Meditation erfahren wir, dass alle Geisteszustände, die unangenehmen wie die angenehmen, nur vorübergehende Erscheinungen in einem unendlich weiten Raum sind. Dieser Raum ist das, was spirituelle Lehrerinnen „das wahre Selbst“ nennen – der „Sommerhimmel“, durch den die Wolken schweben. Im wahren Selbst, dem uns allen gemeinsamen Urgrund des Seins, sind wir seit jeher weit und frei.
Die Gefangenen im Gefängnis Maryland saßen also gemeinsam mit den Nonnen und Mönchen am Mittagstisch. Wenn sie die Anweisungen verstanden hatten, waren sie in diesem Moment voll und ganz präsent in der Gegenwart. Sie kosteten intensiv den Geschmack jedes einzelnen Bissens, ohne ihn zu kommentieren, ohne sich ein anderes Mahl oder eine andere Gesellschaft zu wünschen. Sie waren frei von Wut, Angst, Bewertungen und Grübelei und deshalb frei, den Augenblick und das Essen zu genießen.
Sie aßen als „freie Menschen“. Und sie gingen vielleicht auch als freie Menschen im Gefängnishof, indem sie jeden Fuß bewusst auf den Boden setzten, Schritt für Schritt, und sich nicht wünschten, dies auf einer Wiese zu tun. Thich Nhat Hanh fand eine Formulierung für diese Art Praxis: „Ihr könnt eure Freiheit kultivieren.“ Geistige Freiheit wird uns nicht per Gesetz verliehen, keine äußere Instanz kann sie uns geben, und deshalb kann sie uns auch nicht genommen werden. Wir allein sind für sie verantwortlich. Wir können sie wie eine Gärtnerin pflegen und nähren, damit sie wächst und gedeiht. Mitten im Alltag, beim Kochen, Putzen oder in einer Konferenz können wir kurz innehalten, uns mit unserem Atem verbinden und für ein paar Sekunden das wahre Selbst berühren, den weiten Raum der Stille. Und uns beglückt daran erinnern: Ich bin ja schon frei.
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