Im Himalaja sind sie allgegenwärtig, auch im Westen sieht man sie immer öfter: tibetische Gebetsfahnen. Doch die Nylon-Fabrikate verschmutzen die Umwelt. Ang Dolma Sherpa entwickelte eine biologisch abbaubare Variante. Wie die Nepalesin mit dem Projekt über sich selbst hinauswuchs.
In der Nacht davor konnte Ang Dolma Sherpa kaum schlafen. So viele Stunden hatte sie in das Projekt investiert, so viel Hingabe über die Jahre hineingesteckt. Morgen würden ihre Fahnen auf der Boudha Stupa hängen. Buddhisten auf der ganzen Welt kennen das Gebäude. Der riesige Reliquienschrein in Kathmandu ist jedes Jahr Ziel Tausender Pilger. Gefühlt seit jeher hängen vom goldenen Dach der runden, weißen Kuppel bunte Gebetsfahnen – in Blau, Rot, Weiß, Grün und Gelb.
Und am nächsten Morgen, da würde das Werk vollendet werden. Doch hatte sie sich übernommen? Hatte sie es übertrieben? Was würden die tibetischen Meister sagen? Und was die Leute? Sie fürchtete sich, auch weil ihre Fahnen nicht bunt sind, sondern weiß.
Khatags erzeugen Müllberge
Begonnen hatte alles viele Jahre zuvor. „Meine Mutter hat sich immer über die vielen Khatags aufgeregt“, erzählt Ang Dolma in einem Café in Kathmandu. Ein Khatag ist ein meist weißer Schal, der zum Gruß und zur Verabschiedung im Himalaja-Raum um den Hals gelegt wird. Er soll Glück und Gesundheit bringen. „Als Buddhisten haben wir so viele davon!“, erzählt Ang Dolma. Sie erzeugen einen riesigen Müllberg und werden nicht recycelt. Schon als Kind brachte die Mutter ihr Mülltrennung bei – in den Achtzigern in Nepal eine Seltenheit. Einmal pro Woche saß die Familie im Wohnzimmer und rollte all die Khatags auf, einen nach dem anderen. Stundenlang dauerte das Prozedere, erinnert sich Ang Dolma. Als Teenagerin hasste sie die Arbeit. Fast 30 Jahre später holten sie diese Erinnerungen ein. Es war bei der Bestattung ihres Vaters, der durch einen Autounfall 2011 plötzlich aus dem Leben gerissen wurde. In Nepal werden die Körper der Verstorbenen verbrannt. Sie starrte auf das größer werdende Feuer, und da fiel ihr plötzlich der Haufen an Khatags auf, die alle zusammen mit der Leiche ihres Vaters im Feuer aufgingen. Erst da verstand sie wirklich, was ihre Mutter immer meinte. Und von nun an ließ sie das Thema nicht mehr los. Man musste doch etwas gegen den vielen Müll tun können, anstatt immer nur darüber zu klagen, dachte Ang Dolma.
Mut zur Einfachheit
Früher waren die Khatags aus Baumwolle und nicht aus Nylon, erzählte ihr ihre Mutter. Das Gleiche gilt für die Gebetsfahnen. Sie waren auch nicht so bunt, sondern ganz schlicht. Und damit war die Idee geboren: Ang Dolma und ihre Mutter beschlossen, biologisch abbaubare Khatags und Gebetsfahnen herzustellen, aus einem Mix aus Baumwolle und Jute. Lange mussten sie in Kathmandu suchen, um einen Produzenten zu finden, der für sie Prototypen in so kleinen Mengen herstellen würde. Doch sie wurden fündig. Der Stoffverarbeiter sei so wie sie „kein Geschäftsmann im Herzen“, sagt Ang Dolma. Ihm gefiel hauptsächlich die Idee, dass Mutter und Tochter gemeinsam an einem Projekt arbeiteten. Während Khatags im Westen weniger bekannt sind, sind die Gebetsfahnen auch hier beliebte Dekorationsobjekte. Im Himalaja werden sie als religiöse Objekte benutzt, um damit etwa Gebirgspässe, Gipfel und heilige Stätten zu markieren. Neben der ökologischen Verträglichkeit und der lokalen Produktion war Ang Doma vor allem eines wichtig: Die Fahnen sollten erschwinglich bleiben. Als religiöses Alltagsprodukt sollten sie sich jede und jeder leisten können und nicht zum luxuriösen Lifestyle-Trend werden.
Nicht allen gefällt es
Ökologisch verträglich und bunt – das wäre einfach zu teuer gewesen. Sie entschied sich also dafür, nur die Gebete mit wasserbasierten Farben auf den ansonsten weißen Stoff zu drucken. Mit ihren ersten weißen Fahnen gingen die beiden zum lokalen Rinpoche. Der zeigte sich verzückt: „Ja, so sollen die Fahnen eigentlich ausschauen!“ Der Schritt vom Prototyp hin zur Produktion in größeren Mengen war groß. Die Textilindustrie in Nepal wird von den riesigen Nachbarländern Indien und China dominiert. Auch Ang Dolma bezieht ihre Stoffe aus Indien, verarbeitet wird aber alles lokal in Kathmandu, wenn möglich aus Stoffresten. Ihr Fabrikant schneidet und bedruckt. Das Nähen erledigen Hausfrauen aus ihrer Nachbarschaft, die sich so etwas Zuverdienst schaffen. Heute kann Ang Dolma mit ihrem kleinen Team aus Drucker, Näherinnen und Nähern rund 3.000 Fahnen im Monat herstellen.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung № 124: „Frei Sein!"
Doch von Anfang an gab es auch Leute, die bemängelten, dass ihnen die Fahnen nicht bunt genug seien. Ein Trekking-Unternehmen schickte ihre Bestellung einmal sogar wieder zurück: „Die sind nicht bunt und nicht aus Nylon“, war die Beschwerde. Genau das sei doch der Punkt, schüttelt Ang Dolma den Kopf. Die Berge, Pässe und Gipfel im Himalaja sind auf den beliebten Trekkingrouten übersät von Plastikfahnen. Niemand habe bisher daran gedacht, meint sie. Es brauche Jahrhunderte, bis diese Fahnen dort wieder abgebaut seien. Am Gipfel des Everest fehle den Bergsteigern sogar der Halt, weil sie mit ihren Steigeisen auf den Fahnen nicht einhaken könnten. Das seien zwar nicht alles Gebetsfahnen, aber jede größere Expedition habe etliche religiöse Fahnen im Gepäck. Gerade im Everest-Gebiet gibt es lokale Organisationen, die das Müllproblem seit Jahren zu bekämpfen versuchen. Da Ang Dolmas Vater Trekkingtouren organisiert hatte, weiß sie, wovon sie spricht. Alles, was hinaufgenommen wird, müsse penibel aufgelistet werden – bis auf die Gebetsfahnen, die beachte niemand.
„Du musst an dich glauben“
Mit der Entwicklung der Fahnen sei auch eine starke persönliche Entwicklung einhergegangen, erzählt Ang Dolma. Einmal lud sie eine der größten Banken Nepals als Vortragende ein, als „Social Entrepreneurin“. „Ich wusste nicht, dass ich das bin, bis die Einladung kam!“, lacht sie. „Ich hatte und habe so viele Zweifel“, erinnert sie sich an die schwierigen Prozesse. „Eine einfache E-Mail zu schreiben war so eine riesige Sache.“ Sie griff auf buddhistische Methoden zurück, um ihre Nervosität zu überwinden. Sie begann, Mantras zu rezitieren, und ging in sich. „Ich habe so hart gearbeitet, aber oft ist nichts passiert. Ich habe aufgehört, anderen dafür die Schuld zu geben und mir gesagt: ‚Das ist, was ich will.‘ Wenn du willst, dass Menschen an dich glauben, musst du erst an dich selbst glauben.“ Das größte Projekt kam im Dezember 2021 auf sie zu: Gemeinsam mit Sponsoren aus Malaysia beschloss sie, die ganze Stupa in Boudha neu mit ihren Fahnen zu schmücken. Die Zweifel waren wieder da, das Grübeln: Die ganze Stupa in Weiß, hatte sie sich übernommen? Was würden die Leute sagen? Doch am Ende waren ihre Sorgen unbegründet. Viele applaudierten, Medien in aller Welt berichteten über das innovative, klimafreundliche Produkt. Am Ende ist sie froh, dass ihre Fahnen weiß sind: „Sonst hätten wir nie so viel Aufmerksamkeit bekommen.“ Klimaschutz, Buddhismus, Ideen sichtbar machen, sich dem Widerstand gegen Veränderungen stellen – Ang Dolma hat mit ihrem Projekt viel gelernt. Auch, dass es eben viele Meinungen gibt, „und das ist okay.“ Millionärin werde sie mit dem Kleinunternehmen nicht. „Aber es macht mich sehr glücklich“, sagt sie. Alle Anerkennung gebühre vor allem ihrer Mutter, betont Ang Dolma. Wenn sie es nicht immer wieder zum Thema gemacht hätte, dann wäre nichts passiert.
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Vielleicht erreiche ich Sie über diesen Weg.
Beste Grüße Reiner Geef