Dienen säkulare Achtsamkeitsprogramme nur kommerziellen Interessen, oder können diese die Gesellschaft transformieren? Ein Bericht über die aktuellen Trends für Achtsamkeit und deren Auswirkungen.
Um den aktuellen Stand der säkularen Achtsamkeitsprogramme zu beleuchten, ist es wichtig, in deren Entstehungsgeschichte zu blicken. Durch die kulturellen Umbrüche in den USA in den frühen 1970er-Jahren reisten Buddhismus-Interessierte nach Indien, Thailand, Burma und Tibet und brachten bei Rückkehr ihre Erfahrungen mit. So gründeten 1975 Jack Kornfield, Sharon Salzberg und Joseph Goldstein die Insight Meditation Society, die wiederum Jon Kabat-Zinn, den Gründer des MBSR-Programms (Stressbewältigung durch Achtsamkeit, englisch: Mindfulness-Based Stress Reduction), beeinflusste. Diese erste Generation war noch stark mit den buddhistischen Traditionen verbunden.
Aus diesem Rahmen heraus entwickelte Jon Kabat-Zinn 1979 das MBSR-Programm in einer strukturierten, rein säkularen Form mit Elementen aus der Vipassana-Meditation und dem Yoga, ergänzt durch Ansätze aus Psychologie und Stressforschung.
Das Curriculum ermöglichte es, dass sich die säkulare Achtsamkeit im Westen rasant verbreitete, da es durch die Replizierbarkeit einen optimalen Forschungsgegenstand bot und so zu einem Boom der wissenschaftlichen Publikationen führte. Dass eine Bewusstseinsschulung unabhängig von einer religiösen Ausrichtung möglich war, ist erst mal zu begrüßen. Durch die Reduktion der Inhalte ergaben sich jedoch Problematiken.
Im buddhistischen Kontext ist Achtsamkeit als ein Aspekt des achtfachen Pfads benannt. Hier wirkt sie als „Rechte Achtsamkeit“, zusammen mit den sieben anderen Gliedern: rechte Anschauung, Denken, Rede, Handeln, Lebenserwerb, Anstrengung und Sammlung. Nach dem vietnamesischen Lehrer Thich Nhat Hanh (1926–2022) steht sie sogar im Mittelpunkt der buddhistischen Lehren. Wo diese zu finden ist, wären auch die übrigen Elemente des achtfachen Pfades vorhanden.
So scheint es gerechtfertigt, dass Jon Kabat-Zinn Achtsamkeit als „Umbrella Term“ benennt, der das „ganze Dharma einschließt“.
Diese implizite Einarbeitung buddhistischer Inhalte brachte den säkularen Achtsamkeitsformaten allerdings auch die Kritik der „Trojanisches Pferd“-Hypothese ein: Religiöse buddhistische Lehren würden unter dem Deckmantel von säkularen, psychologischen Programmen in Institutionen wie Schulen, Gefängnisse und Kliniken gebracht werden. Da aber selbst einige buddhistischen Ausrichtungen, die im Westen praktiziert werden, sich nicht als religiöse Lehren, sondern Bewusstseinsschulungen verstehen, ist diese These nicht aufrechtzuerhalten.
Vielmehr wäre mit Blick auf die Definition der Achtsamkeit, die Jon Kabat-Zinn kreierte, um die wissenschaftliche Forschung zu ermöglichen, zu fragen, ob dieses umfassende Verständnis überhaupt im MBSR-Programm und den darauf aufbauenden Programmen zu finden sei: „Achtsamkeit beinhaltet, auf eine bestimmte Weise aufmerksam zu sein: bewusst, im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu urteilen“, so die Definition, wie sie im MBSR genutzt wird.
Darin wird der Bezug zu den verhaltensrelevanten ethischen Aspekten des Achtfachen Pfades überhaupt nicht hergestellt.
Das hat Konsequenzen: Wenn ein explizites Entwicklungsziel fehlt – das traditionell die Transformation zu mehr Verstehen und Liebe ist –, kann Achtsamkeit zu einem Tool werden. Als „McMindfulness“ wird es einerseits zur Ware einer riesigen Wellnessbranche. Diese lädt mit Entspannung und Stressreduktion zu Wohlfühlwochenenden, Malbüchern, „Achtsamem Gassi“-Gehen oder „mind blowing sex“ ein und stellt mittlerweile ein nicht unbedeutendes Marktsegment dar. Andererseits eröffnet das fehlende Benennen der ethischen Komponente, dass diese Form von Achtsamkeit im Militär zum Training von Scharfschützen eingesetzt wird.
Hierbei spielt auch die immer wieder falsch interpretierte Formulierung der „nicht urteilenden“ oder „nicht wertenden“ Haltung eine Rolle. Gemeint ist nicht ein wertfreies und somit unethisches Handeln, sondern beschreibt den direkten Kontakt mit der Wirklichkeit, auch als „gewöhnlicher Geist“ benannt.
Unsere Sicht der Dinge ist geprägt durch unsere Erfahrungen und Sozialisation; auf dieser Basis fällen wir Urteile. Eine „nicht urteilende“ Haltung einzunehmen, heißt, alles, was uns begegnet, erst einmal ohne Interpretation wahr- und anzunehmen. Dies ist unabhängig davon, ob es für uns angenehm oder unangenehm ist.
Das Nichturteilen schützt davor, dem Automatismus der Verdrängung von Unangenehmem zu verfallen. Dadurch kann man mit Wirklichkeit in Kontakt kommen und sie tiefer betrachten; diese Praxis wird im buddhistischen Kontext Tiefes Schauen genannt, „Vipassana“.
Ein Nichturteilen im Sinne des Annehmens der Wirklichkeit ist somit kein Hinnehmen, sondern ermöglicht Transformation und stimmiges rechtes Handeln, indem man die Ursachen erkennt.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung № 123: „Buddha heute"
Allerdings kommt beim MBSR eine zweite problematische Ausrichtung hinzu: Das Handeln in diesem Rahmen ist vorrangig darauf ausgerichtet, Stress zu reduzieren. Das könnte vielleicht als moderne Übersetzung des „Aufhebens von Leiden“ gesehen werden, da Stress als die Volkskrankheit der modernen westlichen Welt beschrieben wird.
Aber diese Idee von Stress richtet sich erstens vorrangig an Menschen aus gehobenen Schichten, die sich weniger den existenzielleren Problemen des Lebens stellen müssen. So kommen die Rezipientinnen und Rezipienten größtenteils aus einer weißen, gehobenen Mittel- und Oberschicht. Zweitens wird die Lösung der stressverursachenden Probleme rein auf das Individuum abgeschoben, ohne die Ursachen des Stresses zu benennen, nämlich ein destruktives System. Ob diese Abkehr von gesellschaftlichen Problematiken nicht auch im traditionellen Kontext außerhalb eines engagierten, sozialen Buddhismus stattfindet, wäre zu diskutieren.
Durch die kritische Debatte sind allerdings stimmige inhaltliche Ergänzungen entstanden, wie MSC (Mindful Self-Compassion) zu den Komponenten von Mitgefühl und Selbstmitgefühl und, um den Shift vom Ego zum Ecosystem zu unterstützen, das MBCL-Programm (Mindfulness-Based Compassionate Living).
Insbesondere im Bildungssektor ist momentan an deutschen Hochschulen eine spannende Entwicklung zu beobachten. So ist sowohl im „Thüringer Modellprojekt“ durch den Bezug auf Otto Scharmers „Theorie U“ als auch im laufenden Projekt „Achtsamkeit in der Bildung und Hoch-/schulkultur“ (ABiK) an der Universität Leipzig Achtsamkeit als Basis für individuelle wie systemische Transformationsprozesse sichtbar.
Durch die Ergänzung der ethischen Komponente und des systemischen Blicks der Interdependenz bieten die dort entwickelten Programme die Basis, Verantwortung in der Gesellschaft und zu nachhaltigem Verhalten zu übernehmen. Diese Ansätze greifen den buddhistischen Grundgedanken der Transformation wieder auf und weiten ihn teilweise aus: eine Tendenz, die zur wechselseitigen Befruchtung einladen kann.
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