Neun Thesen, die einen Weg weisen können für die Praxis. Ein Plädoyer für einen aufgeklärten westlichen Buddhismus.
Warum brauchen wir einen westlichen Buddhismus? Buddha hat seine Lehre verständlich dargelegt, und sie ist nach menschlichen Maßstäben zeitlos. Ist es nicht unsere Aufgabe, sie einfach zu verstehen und anzuwenden?
Wer nur die Lehre einer einzigen klassischen buddhistischen Tradition kennengelernt hat, könnte so argumentieren. Tatsächlich aber gibt es heute viele verschiedene „Buddhismen“, die sich stark voneinander unterscheiden. Während viele tibetische Mönche in Indien den größten Teil ihrer Zeit mit Ritualen für die Beschützer des Klosters und zur Unterstützung buddhistischer Laien und Gebeten zu verschiedenen Gottheiten und mit Rezitationen von Sutras verbringen, aber keine formale Meditation praktizieren, widmen sich in burmesischen Meditationszentren sogar Laien der intensiven Meditation. Der Amithaba-Buddhismus meint stattdessen, dass „es für die heutigen Menschen fast unmöglich [ist], die Erleuchtung […] zu erlangen. Es bleibt aber die Möglichkeit, Amithaba um Hilfe zu bitten.“ Warum sollten wir also nicht im Westen ebenfalls einen Buddhismus praktizieren, der zu unserer Kultur passt?
Im Folgenden habe ich in neun Thesen versucht, herauszuarbeiten, was einen westlichen Buddhismus im Kern ausmachen könnte.
These 1: Westlicher Buddhismus integriert Praktiken und Lehren verschiedener Buddhismen.
Während in asiatischen Ländern häufig eine einzige buddhistische Tradition vorherrscht, hat der westliche Buddhist die Chance, verschiedene buddhistische Richtungen und Lehrer kennenzulernen und daraus einen Buddhismus zu gestalten, der das Beste aus verschiedenen Traditionen aufnimmt.
Aber wie treffen wir die dafür nötigen Entscheidungen? Joseph Goldstein, ein US-amerikanischer Lehrer der Vipassana-Meditation, schlägt in seinem Buch „Ein Dharma“ vor, sich die folgenden Fragen zu stellen: „Was hilft? Womit befreit man den Geist am besten vom Leiden? Wie füllt man sein Herz am besten mit Mitgefühl? Welcher Weg führt sicher zur Erleuchtung?“ Diese Fragen sind nicht einfach und eindeutig zu beantworten. Aber wir sollten sie uns stellen. Denn das blinde Vertrauen in einen einzigen Lehrer birgt gewaltige Risiken.
These 2: Wir sollten nicht blind an etwas glauben.
Karma und Wiedergeburt, Höllen und Himmelswelten, Lichtstrahlen des Buddha, die 18.000 Welten erleuchten, und die Fähigkeit bestimmter buddhistischer Meister, das Wetter zu ändern – all das findet sich in den verschiedenen traditionellen buddhistischen Schulen. Vielen westlichen Menschen fällt es schwer, an übernatürliche Phänomene zu glauben. Sie bestehen darauf, sich eine eigene Meinung zu bilden, und vertrauen auf die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung.
Im westlichen Buddhismus sollten wir deshalb nicht asiatischen Lehrdogmatiken blind folgen, sondern uns bewusst entscheiden, woran wir glauben wollen. Zentrales Kriterium für diese Entscheidung könnte sein, ob es glaubwürdige Belege für spezifische Vorstellungen gibt. Man kann Glaubensvorstellungen nicht widerlegen: Vielleicht gib es in dem Raum, in dem wir uns gerade befinden, eine Menge unsichtbarer Wesen – wir sehen sie ja nicht. Aber man kann fragen, ob es Belege gibt: „Ich habe keine Nicht-Selbst-Erfahrung gemacht, aber es gibt glaubwürdige Menschen, die mir davon berichten – also glaube ich, dass man solche Erfahrungen machen kann.“
3. These: Buddhismus und Wissenschaft ergänzen sich.
Unsere Gesellschaft wird bereits jetzt nicht unwesentlich von buddhistischer Philosophie und buddhistischen Praktiken beeinflusst. Wissenschaftler untersuchen die Auswirkung von Meditation. MBSR ist als Methode zur Stressbewältigung, Depressionsbekämpfung und zum Umgang mit chronischen Schmerzen weithin anerkannt. Ideen wie das „Nicht-Selbst“ tauchen im wissenschaftlichen Diskurs, zum Beispiel in der Bewusstseinsphilosophie, auf.
Den Buddhisten wiederum können die Ergebnisse der Neurowissenschaften helfen, was im Geist passiert, besser zu verstehen und zu beschreiben. Ein Buddhismus, der wissenschaftliche Erkenntnisse einbezieht, erscheint mir überzeugender als einer, der sich vom wissenschaftlichen Diskurs abschottet.
4. These: Lehrenden sollte mit Respekt begegnet werden. Gleichzeitig sollten westliche Buddhisten einen kritischen Blick gegenüber den Lehrenden behalten.
Kurz vor seinem Tod äußerte sich Buddha zur Frage seiner Nachfolge: „Wer den Gedanken hegt: ‚Ich will es sein, der den Bikkhusangha leitet‘ oder ‚Der Bikkhusangha untersteht meiner Führung‘, der hätte Nachfolgebestimmungen zu treffen. Ein Vollendeter indes hegt keine solchen Gedanken. […] seid [von nun ab] euch selbst eine Insel, euch selbst eine Zuflucht, sucht keine andere Zuflucht; nehmt die Lehre als Insel, die Lehre als Zuflucht, nehmt keine andere Zuflucht!“
Aus Sicht des Buddha reicht also seine Lehre aus, um die Ziele des Buddhismus zu erreichen. Da wir aber in allen Lebensbereichen von den Instruktionen anderer profitieren, halte ich das auch im westlichen Buddhismus für nützlich. Vor allem Meditation kann von fortgeschrittenen Praktizierenden besser gelernt werden als aus einem Buch. Fortgeschrittene Praktizierende können Erfahrungen, die man bei der Meditation macht, besser einordnen.
Problematisch ist hingegen die Verehrung buddhistischer Lehrerinnen und Lehrer. Zwar kann die Hingabe an einen uneigennützigen, erfahrenen Lehrenden die spirituelle Entwicklung fördern, aber was wird, wenn der Lehrende nicht so uneigennützig ist, wie er sich gibt? Das Bedürfnis nach Verehrung kann dazu führen, dass nur die positive Seite gesehen und grenzüberschreitende Verhaltensweisen ausgeblendet werden. Im schlimmsten Fall führt das zu Missbrauch.
Damit so etwas nicht passiert, sollten westliche Buddhisten bei aller Wertschätzung für ihre Lehrerin oder ihren Lehrer immer einen kritischen Blick bewahren und Fehlverhalten offen ansprechen. Das hilft auch den Lehrenden. Denn der Status eines verehrten, sozusagen unfehlbaren Lehrenden kann auch bei fortgeschrittenen Praktizierenden zu einem Rückfall in die Ich-Bezogenheit führen.
Eine gute Lehrerin oder ein guter Lehrer führen die Schülerinnen und Schüler in die Unabhängigkeit. Wer Kontrolle über die Lernenden behalten will, offenbart zweifelhafte Motive. Hier spielen dann etwa die Sorge um den eigenen Lebensunterhalt oder um Status eine Rolle.
Überhaupt sollten wir bei der Wahl einer Lehrerin oder eines Lehrers Kriterien zugrunde legen, die mit der buddhistischen Lehre zu tun haben. Viele Menschen bilden ihr Urteil über die Qualität eines buddhistischen Lehrenden danach, wie selbstbewusst sie oder er auftritt, nach der Zahl der Anhängerinnen und Anhänger, nach Coolness, Bekanntheit mit Prominenten, also nach Kriterien, die sie an Showstars oder Sportler anlegen würden. Ein fortgeschrittener Praktizierender hat aber sicher ein eher geringes Bedürfnis nach Selbstdarstellung.
Es kann außerdem hilfreich sein, nicht nur von einem Menschen zu lernen, sondern die Sichtweisen verschiedener Lehrenden zu prüfen. Dies erweitert den Blick auf die buddhistische Lehre.
5. These: Rituale gehören nicht zum Kern der Lehre, können aber trotzdem nützlich sein.
Buddha bezeichnete das Hängen an Regeln und Riten als eine Fessel, die auf dem Weg des Erwachens überwunden werden muss. Rituale gehören nicht zum Kern der Lehre. Sie können jedoch einen sinnvollen Beitrag leisten. Durch das wiederholte Rezitieren buddhistischer Sutren etwa kann die Lehre tiefer in uns verankert werden. Rituale erreichen das Unbewusste. Dafür ist es aber notwendig, dass die Texte in deutscher Sprache rezitiert werden und so formuliert sind, dass sie verständlich und nachvollziehbar bleiben. Rituale sollten im Hinblick auf ihre Ziele immer gut begründet sein. Ein Ritual um des Rituals willen – weil man das immer schon so gemacht hat – ist ohne Wert.
6. Frauen und Männer sind völlig gleichberechtigt.
Der Buddha selbst hat einen Frauenorden gegründet. In vielen Ländern Asiens können Frauen den Buddhismus dennoch nicht als voll ordinierte Nonnen praktizieren. Dies ist nicht nur auf Länder wie Thailand oder Myanmar beschränkt. So verkündete der Dalai Lama in einem Interview im Jahr 2010 etwa: „Nach unserer Tradition muss die Ordination einer Bhikshuni von einem Bhikshuni-Abt beziehungsweise einer Bhikshuni-Äbtissin durchgeführt werden. Da in unserer Tradition keine Bhikshuni-Äbtissin verfügbar ist, ist nach unserer Tradition hier Schluss. Das ist das Problem.“ Im Jahr 2009 machte Ajahn Brahm Schlagzeilen, weil er entgegen der Tradition seiner Ordenslinie vier australische Frauen als volle Ordensmitglieder, Bikkhunis, ordinierte. Dies führte zum Ausschluss von Ajahn Brahm und seines Klosters aus dem Orden. Im westlichen Buddhismus ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Frauen und Männer völlig gleichgestellt sind.
7. These: Westlicher Buddhismus ist eine Laienbewegung.
Von der Zeit des Buddha an standen Mönche im Mittelpunkt des Buddhismus. Sie leiteten Kloster und Tempel. Die Laien, sogenannte Haushälter, spendeten, nahmen an buddhistischen Zeremonien teil und profitierten von den Dienstleistungen der Tempel.
In Amerika und Europa werden heute die meisten buddhistischen Gruppen von Laien geleitet. Laien sind nicht den rigorosen Regeln des Vinaya unterworfen, können ihr Leben dennoch ganz der buddhistischen Praxis widmen. Sie müssen viele Entscheidungen treffen, die Mönchen durch die Ordensregeln abgenommen werden, etwa der Umgang mit Sexualität und Beziehungen, der Umgang mit Geld und vieles mehr. Das kann die Ausrichtung auf die buddhistische Praxis erschweren, aber auch neue, zeitgemäße buddhistische Lebensformen ermöglichen.
8. These: Der Buddhismus wird durch den Westen demokratischer.
Wenn Menschen, wie in einigen asiatischen Ländern, in einem autoritären Gesellschaftssystem leben und nur eine einzige Form des Buddhismus kennen, dann werden sie leicht eine autoritäre Führung akzeptieren. Im Westen sind wir bereits länger mit demokratischen Regierungsformen vertraut. Und so hat auch mehr Demokratie in buddhistischen Gruppen Einzug gehalten. In Deutschland ist zum Beispiel die DBU, als Interessenvertretung des Buddhismus, demokratisch organisiert. Das halte ich auch für den angemessenen westlichen Weg: Buddhistische Gruppen im Westen sollten demokratisch organisiert sein.
9. These: Westlicher Buddhismus ist mehr als eine psychologische Lehre.
Was spricht für einen westlich-säkular-denkenden Menschen überhaupt dafür, Buddhist zu sein? Reicht es nicht aus, zu meditieren und sich mit Psychologie zu beschäftigen? Und was unterscheidet den westlichen Buddhismus von Methoden wie MBSR, der „Mindfulness Based Stress Reduction“?
Buddhismus, auch westlicher Buddhismus, ist eben nicht nur eine Sammlung von Techniken zur Beeinflussung des Geistes. Buddhismus ist eine praxisorientierte Vorstellung davon, was im Leben wichtig ist, wie man mit verschiedenen Lebenssituationen umgeht, wie man mit seinem Geist arbeitet, gelassener zu werden, weniger zu leiden und vielleicht sogar gänzlich zu erwachen.
Buddhist zu sein, bedeutet, Prioritäten zu setzen. Dazu gehört für mich, weniger Wert auf materielle Güter zu legen, als dies in unserer Gesellschaft üblich ist. Das eigene Wohlergehen hängt von ihnen nicht ab. Buddhist zu sein bedeutet, ethisch zu handeln. Sich zu bemühen, großzügig und liebevoll mit anderen Menschen umzugehen, und beispielsweise verletzende Handlungen und Sprache zu vermeiden. Es bedeutet, in unserem Geist Mitgefühl, Mitfreude, Gleichmut und Wohlwollen zu entwickeln und zu etablieren. Buddhist zu sein bedeutet, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen: Nicht der andere ist Architekt meines Wohlergehens. Das bin ich allein.
Buddhist zu sein heißt für mich, mich intellektuell mit buddhistisch-philosophischen Fragen auseinanderzusetzen, dem Nicht-Selbst und der Idee der Substanzlosigkeit von Gedanken, den eigenen Tod nicht zu verdrängen, sondern ihn mir bereits jetzt bewusst zu machen.
Viele Buddhisten suchen die Gemeinschaft mit anderen Buddhisten und tauchen mit ihnen in eine neue Gedankenwelt ein. Sie sind Teil einer Sangha, einer buddhistischen Gemeinschaft, in der man sich gegenseitig in seiner persönlichen Entwicklung unterstützt und Freundschaften schließt.
Buddhist zu sein, verändert das ganze Leben. Es beeinflusst die Werte, die Einstellung zu sich selbst und anderen Menschen, die eigenen Handlungen, die Lebensentscheidungen, den Kreis der Menschen, mit denen man sich umgibt. Buddhismus ist eine Art und Weise, zu sein, das Leben zu sehen und zu gestalten. Wie stark wir uns darauf einlassen, hängt nicht von der Übereinstimmung mit einzelnen Aspekten der buddhistischen Lehre ab, sondern davon, wie stark unser Gefühl von Resonanz mit dem Buddhismus als Ganzem ist.
Die Auseinandersetzung mit Buddhismus lohnt sich. Ich plädiere dafür, dass wir diese Auseinandersetzung auf westlich aufgeklärte Art führen.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 118: „Zufriedenheit"
Thomas Hamann ist Vorsitzender des Vereins Freier Buddhismus e. V. Der Beitrag basiert auf einem gleichnamigen Vortrag, der als Audiodatei auf der Website zu finden ist. www.freierbuddhismus.de
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ihre Neun Thesen, die einen Weg weisen können für die Praxis. Ein Plädoyer für einen aufgeklärten westlichen Buddhismus.
Ist genau das, was ich als säkularer Buddhist
voll und ganz zustimmen kann.
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Mit freundlichen, aberglaubensfreien, heilsamen, buddhistischen Grüßen
Uwe Meisenbacher
Ihren neun Thesen kann ich mich ohne Vorbehalt anschließen.
Herzliche Grüße aus Hattingen