Geschützte Räume sind auch im spirituellen Kontext notwendig. Sie geben Sicherheit, laden zum Erfahrungsaustausch ein und stärken auf dem individuellen Lebensweg.
In größeren Städten und auch im World Wide Web entstehen derzeit viele Sanghas für LBSTQIA+. Offensichtlich besteht Bedarf. Die sozialen Medien und Foren im Internet bieten ihren Mitgliedern aufgrund der Anonymität eine gewisse Sicherheit und Spielfläche, bevor diese dann den Schritt nach außen wagen. Leider ist das Coming-out für die meisten Menschen aus dem Regenbogenspektrum noch immer mit Angst und Scham verbunden. Es braucht Mut, zu sich selbst zu stehen und anders zu sein. Im kollektiven Bewusstsein unserer Gesellschaft wirken tief sitzende Überzeugungen: Was nicht der Norm entspricht, ist anormal, also irgendwie falsch und schlecht, bestenfalls bemitleidenswert. Homosexualität ist kriminell. Transsexualität und Intersexualität krank, und Asexualität gibt es nicht. Homophobie, Transphobie und Ignoranz sind die Folgen, die sich nicht selten in Gewalt und Diskriminierung äußern. Kein Wunder also, dass sich Betroffene zurückhalten und verstecken. Meistens haben sie abwertende Beurteilungen schon früh in ihrem Leben verinnerlicht. Sie haben gelernt, dass mit ihnen etwas nicht stimmt und so eine negative Haltung sich selbst gegenüber entwickelt. Diese kann sich in selbstzerstörerischem Verhalten und Depression bis hin zu Suizid äußern.
In spirituellen Zusammenhängen bleiben Menschen aus dem Regenbogenspektrum oft unsichtbar und unerkannt, denn, so sagen sie zuweilen zu sich selbst: „Was hat mein Buddha-Weg, was hat meine Meditation mit meiner sexuellen Orientierung oder Identität zu tun!?“ Apropos Identität: Lehrte Buddha nicht selbst, dass jegliche Identifizierung Illusion sei und somit leidvoll, und wir uns ganz davon befreien sollen? So jedenfalls könnte man sich herausreden.
Wir versuchen eine recht ungesunde Abkürzung, wenn wir wesentliche Persönlichkeitsanteile von uns einfach ausklammern. Auch als praktizierende Buddhist*innen sind wir Menschen aus Fleisch und Blut, mit einer Lebensgeschichte, die wir nicht verleugnen und aussperren können. Wenn wir unsere wahre Buddha-Natur berühren wollen, kommen wir nicht umhin, alle Schichten unseres Selbst zu durchschreiten und sie allesamt mit hineinzunehmen in die große Erfahrung, ins große allumfassende Buddha-Herz.
In dem Sicherheit gebenden Raum, dieser „Buchstaben-Sangha“, konnte ich mich entspannen und fallen lassen.
Als ich im März 2017 im Kreis von etwa vierzig Praktizierenden in unserem ersten LBSTQIA+ Retreat im Europäischen Institut für Angewandten Buddhismus, „EIAB“, saß und wir über mehrere Tage hinweg eine Regenbogen-Sangha bildeten, war das ein unerwartet erhellendes und beglückendes Ereignis. Ich erfuhr zu meiner eigenen Überraschung eine Vertiefung in der Meditationspraxis, die ich maßgeblich der Tatsache zuschreibe, dass ich mich in einem geschützten Raum mit Menschen befand, vor denen ich mein Anderssein nicht verbergen musste, Menschen, von denen ich wusste, dass sie ähnliche Erfahrungen kannten wie ich, ähnliche Ängste durchlebten und vor ähnlichen Fragen und Schwierigkeiten standen. In dem Sicherheit gebenden Raum, dieser „Buchstaben-Sangha“, „LBSTQIA+“ eben, konnte ich mich entspannen und fallen lassen. Endlich fand auch mein Anderssein ein Zuhause im spirituellen Kontext.
Inzwischen lerne ich, dass ich mich auch in meiner größeren Sangha nicht verstecken muss. Ich erlebe, dass ich mitsamt meinem Transitionshintergrund willkommen bin und ankommen darf. In all den vielen Jahren, in denen ich auf meinem spirituellen Weg unterwegs gewesen bin, waren es hauptsächlich meine verinnerlichten Selbstverurteilungen, die mich daran gehindert hatten, meine Regenbogenfarben sichtbar werden zu lassen.
Geschützte Begegnungs- und Erfahrungsräume sind so lange notwendig, bis sich unsere Ängste, Scham und Selbstverurteilungen verwandeln.
Wir haben in unseren buddhistischen Traditionen wunderbare Übungen und Werkzeuge, die uns auf dem Weg des Nachhausekommens unterstützen. Da sind zum Beispiel die Metta-Meditationen – auch „Meditation der liebenden Güte“ genannt. Mit ihrer Hilfe habe ich gelernt, mich selbst wirklich anzunehmen und zu lieben, statt mich nur geduldig zu akzeptieren oder gnädig zu tolerieren.
Geschützte Begegnungs- und Erfahrungsräume für gesellschaftliche Randgruppen sind in unseren spirituellen Zusammenhängen so lange notwendig, bis sich unsere Ängste, unsere Scham und unsere Selbstverurteilungen in liebendes Annehmen dessen, was ist, verwandeln. Diese Transformation erfährt starke Beschleunigung im Zusammensein mit Menschen ähnlicher Hintergründe. Dort ist Austausch möglich, ohne sich erklären zu müssen. Das eigene So-Sein erfährt Verstehen, Zuneigung und innere Heimat. Damit einher gehen allmähliche Selbstakzeptanz und Heilung im Sinne von Ganzwerdung. Die oft mitgebrachte Überzeugung, „nicht richtig“ zu sein, kann nach und nach losgelassen werden.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung Special №. 1: „Buddhismus unter dem Regenbogen"
Dann kommen lebendige Freude und Dankbarkeit für genau dieses individuelle Menschsein zum Vorschein. Je transparenter und weiter das Individuelle zu werden wagt, desto mehr leuchtet der Buddha-Geist. Dann mögen wir uns schließlich ohne Angst und befreit von Etikettierungen auf den offenen Marktplatz des Lebens jenseits von Buchstaben begeben. Wir singen und lachen mit offenen Herzen und helfenden Händen im Bewusstsein der tiefen Verbundenheit von allen und allem.
Jan-Michael Ehrhardt ist seit 2001 Mitglied des „Intersein-Ordens“, der 1966 in Vietnam von Thích Nhất Hạnh gegründet wurde. Er lebt zusammen mit seiner Partnerin in einer kleinen spirituell und ökologisch ausgerichteten Gemeinschaft, dem Friedenshof, in der Nähe von Hannover: www.friedenshof.org.
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