Sinnlichkeit, Genuss, Spiritualität und Steigerung der sexuellen Energien – oder was Tantra alles kann.
Tantra ist etwas ganz anderes, als sich die meisten darunter vorstellen. Im Westen glaubt man oft, dass Tantra einfach exotischer Sex mit ungewöhnlichen Liebesstellungen ist. Tantra hat in Indien seinen Ursprung. Das Wort „Tantra“ ist Sanskrit und bedeutet „Faden“ oder „Gewebe“ und im übertragenen Sinn auch „innerstes Wesen“. Die „Tantras“ sind einige sehr alte und umfangreiche Bücher, die esoterische Rituale und Schriften enthalten.
In den hinduistischen Tantras werden Gespräche zwischen Shiva – der männlichen Gottheit – und seiner Geliebten Parvati – der weiblichen Gottheit – wiedergegeben. Dabei stellt sich das Prinzip des Tantra heraus: Mann und Frau bilden eine untrennbare Einheit. Die Rituale dienen dazu, diese Einheit im Zustand der Ekstase erfahren zu können. Tantra ist dem Leben zugewandt. In der Praxis geht es daher darum, die spirituelle Dimension von Lebenslust und Sinnesfreude zu erfahren – und hier kommt auch die sexuelle Vereinigung ins Spiel.
Spirituelle Sinnlichkeit
Das Thema Sexualität ist durchaus komplex: Starke Begierde und Sex als Konsumgut führen leicht zu Besessenheit und schließlich zu Gewalt im Denken, Sprechen oder Handeln oder schlagen in Suchtverhalten um. Dann bringt Sex den Menschen in Abhängigkeit und macht ihn unglücklich. Mit alledem hat Tantra jedoch nichts zu tun. Im Gegenteil: Beim Tantra geht es um Achtsamkeit, Mitgefühl und Verbundenheit. Tantra begreift die Liebe als Form der Meditation. Das ist auch der Grund, warum durch die Tantra-Praxis die Möglichkeit entsteht, die spirituelle Seite der Sinnlichkeit zu entdecken und in der körperlichen auch die geistige Verbindung zum Partner zu erleben. Ohne Lust, Sinnlichkeit und Lebensfreude gäbe es keine Zeugung und keine Entwicklung. Anderen Menschen oder sich selbst Leid zuzufügen, sind im Tantra nicht gewünscht, denn Tantra zeigt eine ausgeprägte Ehrfurcht vor dem Leben.
Der Yoga der Liebe
Tantra ist im Westen wohl auch deshalb so bekannt geworden, weil es den Menschen eine besondere Chance bietet. Tantra bejaht Lust, Genuss und Sexualität, weist aber vor allem Tantra den Weg zu einem bewussten, meditativen Umgang mit der eigenen Lust und den Energien des Körpers. Das ist etwas völlig anderes als bloßer Sexkonsum.
Das Ausschöpfen des eigenen Energiepotenzials, die Verlängerung und Intensivierung des sexuellen Akts und die Entwicklung der Chakren – der feinstofflichen Zentren im Körper – sind letztlich nur Teilziele, die dabei helfen, das eigentliche, höchste Ziel von Tantra zu erreichen. Tantra ist das „Yoga der Liebe“. Tantra und Yoga verfolgen beide das gleiche Ziel: die Erweiterung des Bewusstseins und das Erlangen von Glückseligkeit.
Der Unterschied liegt nur im Weg. Im Yoga liegt das Gewicht eher auf Askese, im Tantra auf Ekstase. Doch klar ist, der Weg des Tantra ist ein spiritueller, achtsamer Weg. Ohne Liebe und Achtsamkeit ist tantrischer Sex im Gegensatz zu gewöhnlichem Sex nicht möglich.
Die Methode
Gesundheit, eine erfüllte Sexualität, Spiritualität und transzendentale Liebe sind wichtige Ziele des Tantra. Doch wie wird im Tantra vorgegangen? Welche Techniken werden hier eingesetzt?
Offenheit, eine innere Haltung bejahender Lebensfreude und die Ausrichtung auf die spirituelle Seite der Liebe sind die besten Voraussetzungen für Tantra-Übende. Darüber hinaus kommen im Tantra konkrete Methoden zur Anwendung, wie etwa die Entfaltung der Sinnlichkeit durch den Geschmackssinn, Wein, bestimmte Speisen, Düfte, wie Aromaöle und Räucherstäbchen, sowie Berührungen in der zärtlichen Massage. Der Liebesakt wird ritualisiert. Es werden Entspannungstechniken eingesetzt, die Gelassenheit und eine angstfreie, meditative erotische Erfahrung fördern. Die sexuelle Erregung und auch der Orgasmus werden bewusst kontrolliert, um den Akt zu verlängern, und klassische Liebesstellungen werden geübt.
Die Grundlage des Tantra
Das tantrische Weltbild geht von einer einzigen kosmischen Ur-Energie aus, die allem Sein zugrunde liegt, und es teilt diese Ur-Energie nicht in Geist und Materie. Im Tantra werden zahlreiche Götter und Göttinnen, die Ur-Prinzipien symbolisieren, verehrt. Dazu zählen Shiva, Kali, Vishnu oder Parvati. Trotz der vielen Gottheiten sieht Tantra das Göttliche im Grunde jedoch als eine ungeteilte Energie an. Tantra unterscheidet nicht zwischen göttlich und weltlich. Alle Wesen werden ausnahmslos von der einen Ur-Energie gespeist. Der Tantrika findet die letzte Wirklichkeit nicht in der Meditation oder in der Sinnlichkeit, sondern in der Meditation über die Sinnlichkeit! Für jeden Tantra-Übenden ist es zunächst wichtig, sich über sein egoistisches Ich-Bewusstsein zu erheben. Durch die bewusste, zeremonielle Ausführung bekommt das Wir in der sexuellen Vereinigung mehr Tiefe und Bedeutung. Der oder die Geliebte ist dabei sehr viel mehr, als lediglich ein oder eine Geschlechtspartnerin: Der Mann wird zum verehrungswürdigen Gott, Shiva, die Frau zur angebeteten Göttin, Shakti, beziehungsweise deren sinnliche, mitfühlende Verkörperung Parvati.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 116: „Leben, lieben, lachen"
Tantrische Chakra-Massage In der Tantra-Massage sind beide Partner nackt. Der Raum sollte entsprechend warm sein. Schmücken Sie Ihren Massageplatz mit roten, orangen und gelben Decken, Kissen und Tüchern, um die unteren Chakren der Lebenskraft und Sinnlichkeit anzuregen. Kerzen und Räucherstäbchen können zu einer sinnlichen Atmosphäre beitragen. Führen Sie die Massage in Form eines kleinen Rituals durch: Stellen Sie ein paar Oliven, etwas Wein und Brot bereit und nehmen Sie sich bewusst Zeit. Verwenden Sie reines Mandelöl zur Massage. Bitten Sie Ihren Partner, sich auf den Rücken zu legen und die Augen zu schließen. Massieren Sie das Öl mit langsamen, streichenden Bewegungen von den Füßen über die Beine aufwärts. Massieren Sie anschließend behutsam Bauch und Brust Ihres Partners mit kreisenden Bewegungen. Denken Sie nicht zu viel nach. Folgen Sie Ihrer Intuition. Schließen Sie die Massage mit einer Chakra-Harmonisierung ab. Dazu legen Sie eine Hand auf die Mitte der eigenen Brust, die andere auf die Scham Ihres Partners. Versuchen Sie, im gleichen Rhythmus wie Ihr Partner zu atmen. Durch die meditative Berührung wird ein Energiestrom zwischen den Chakren angeregt. Sie müssen nichts weiter dazu „tun“. Spüren Sie einfach die Berührung und die Verbundenheit zu Ihrem Partner so bewusst wie möglich. |
Tantrische Atemvereinigung Eine ganz wunderbare Methode, um mit seinem Partner in einen harmonischen Energieaustausch zu kommen, ist die tantrische Atemvereinigung. Diese Übung ist denkbar einfach und für praktisch jedes Paar durchführbar. Sie hat besonders intensive Wirkungen. Sie verstärkt die Achtsamkeit, die Verbundenheit und die spirituelle Nähe. Der Name der Übung sagt eigentlich schon das Wesentliche: Beide Tantra-Übende bringen ihren Atem in Gleichklang. Als ein Teil der Chakra-Massage kam das ja auch schon vor. Hier aber liegt die Betonung nun ganz und gar darauf. Die rituelle Einstimmung ist auch hier die Vorbereitung. Dann begeben sich die Partner in eine Position, bei der sie den größtmöglichen Körperkontakt haben: Entweder Bauch an Rücken, „Löffelchen“, oder eine innige frontale Umarmung. Spüren Sie sich gegenseitig ganz und gar. Bringen Sie, ohne Worte, Ihre Atmung in Einklang. Spüren Sie, wie Ihr Partner atmet und kommen Sie in denselben Rhythmus. Das ist keine „Einbahnstraße“. Auch der andere versucht, in Ihren Rhythmus zu kommen. Sobald die Atmung synchronisiert ist, ja, schon während der Synchronisierung, verstärkt sich der Energiefluss zwischen Ihnen, das Gefühl der Verbundenheit steigt, und die Achtsamkeit wird zur tiefen tantrischen Meditation. Eine interessante Variation besteht darin, die Atmung paradox zu synchronisieren: Sie atmen im Einklang, aber wechselseitig: Wenn Ihr Partner einatmet, atmen Sie aus. Wenn Ihr Partner ausatmet, atmen Sie ein. Nach kurzer Zeit kann sich auch hierbei das Gefühl der vollkommenen Einheit einstellen: Sie atmen Ihren Partner, er atmet Sie. Sie sind eins. |
Kalashatra Govinda, ist ausgebildet in der altindischen Yogaphilosophie. Er hat sich besonders durch seine erfolgreichen Publikationen zu den Themen Chakren und Tantra einen Namen gemacht.
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