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Achtsamkeit & Meditation

Bhante Sukhacitto unterrichtet den Einsichtsdialog, er ist der einzige ausgebildete Retreatlehrer im deutschen Sprachraum. In dieser Praxisform steht Kommunikation im Mittelpunkt der Meditation.

U\W: Sprechen und meditieren gemeinsam ist eher ungewöhnlich, wie kam es dazu?

Bhante Sukhacitto: Gregory Kramer, ein US-amerikanischer Vipassana-Lehrer, hat in den 1990er-Jahren den Einsichtsdialog entwickelt. Seine Erkenntnis, dass ein wesentlicher Teil des Leids und auch des Glücks im Leben aus Beziehungen zu anderen hervorgeht, hat dazu geführt, dass er die klassische Einsichtsmeditation sehr effektiv ergänzte. Er hat mit seinem Ansatz versucht, eine alltagstauglichere Meditationsform zu entwickeln, in der Kommunikation und die Beziehung zu anderen Menschen Teil der Praxis sind.

Wie kann man sich das vorstellen?

Der Einsichtsdialog wird paarweise oder manchmal auch in kleinen Gruppen praktiziert. Sechs Meditationsrichtlinien beziehungsweise Anleitungen geben ein genaues Schema vor, nachdem er abläuft: innehalten, entspannen, öffnen, sich einstimmen auf das Entstehen, tiefes Zuhören und Sprechen der Wahrheit. Jeder Schritt geht in den nächsten über, und die Anleitungen sind miteinander eng verwoben. Beim Innehalten etabliert man Achtsamkeit. Beim Entspannen fühlt man in sich und seinen Körper hinein und entwickelt eine geistige Haltung des Annehmens und Akzeptierens. Wenn man seinen Geist dann öffnet, geht es nicht nur darum, die Aufmerksamkeit nach innen zu richten, sondern man öffnet sich auch nach außen zu seinem Meditationspartner. Es wird ergründet, was das Innen und das Außen wirklich ist.

Sitzt man sich mit geöffneten Augen gegenüber?

Ja, man schaut sich an. Das bewusste Öffnen und der Blickkontakt sind das Ungewöhnliche bei dieser Meditationsform. Die Meditationspartner lassen sich aktiv aufeinander ein. Sie treten miteinander in Beziehung auf der Grundlage des Gewahrseins, verankert im eigenen Körper und Geist.

Mediation

Welche Vorteile hat das?

So kann einfacher nachgespürt werden, was für Emotionen und Gefühle auftauchen und sich wieder verflüchtigen. Die Unvorhersehbarkeit und die Unkontrollierbarkeit werden erfahren – alles entsteht und vergeht. Die Vergänglichkeit wird einem dadurch bewusst und zum Teil der Praxis. Die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit ist nämlich ganz zentral im Einsichtsdialog. Die Praktizierenden sollen sich darauf einlassen und sich dabei gegenseitig behilflich sein. Ein weiterer Vorteil ist, dass bei der gemeinsamen Meditation die Gedanken nicht so leicht abschweifen können. Man holt sich quasi gegenseitig immer wieder ins Hier und Jetzt zurück und schweift auch weniger ab.

Geht es nur darum, die Vergänglichkeit zu erfahren oder setzt man sich auch mit anderen Themen auseinander?

Im Einsichtsdialog gibt es auch Kontemplationsthemen, die ein weites Feld umspannen. Da kommen klassische buddhistische, aber auch psychologische Themen vor: Alter, Krankheit, Tod oder wie mit Hindernissen in der Meditation umgegangen werden kann. Eine Kontemplation zur eigenen Großzügigkeit oder zum eigenen ethischen Verhalten sind möglich. Unsere soziale Verantwortung gegenüber den Herausforderungen von Klimawandel, Geschlechterfragen bis hin zum Rassismus können ebenso ganz genau betrachtet werden. Bei der Ergründung unterstützen einen die sechs Richtlinien, die dazu führen, dass man tief zuhören und achtsam sprechen lernt. Dadurch entstehen bei den Praktizierenden oft ganz neue Erkenntnisse.

Entsteht dann zu den Themen eine Diskussion?

Beim Dialog gibt es meist festgeschriebene Rollen: Eine Person übt sich im tiefen Zuhören, während die andere spricht. Zu anderen Zeiten wird aber auch ein offener Austausch ohne feste Rollen geübt. Während des Dialogs wird man immer wieder eingeladen, innezuhalten, den Gedanken- und Wortfluss zu unterbrechen, zu verlangsamen, damit die Achtsamkeit wieder etabliert werden kann. Es ist ein wirklich meditativer Prozess, nicht vergleichbar mit einem normalen Gespräch.

Führt das Wort „Dialog“ ein bisschen in die Irre?

Ja, denn es ist kein Dialog im klassischen Sinn. Beim tiefen Zuhören geht es nicht nur um Worte, geachtet wird auch auf die Stimme, die Körpersprache, die Gestik und die Mimik. Es ist ein ganzheitliches Zuhören. Man unterstützt sich im Prozess des Ergründens und des Erforschens, indem man im freundlichen Gewahrsein zuhört, entspannt und offen ist. Beim Sprechen geht es um die eigenen Erfahrungen zum Thema, über das gerade kontempliert wird. Die persönlich erlebte Wahrheit ist wichtig, nicht angelesene Weisheit oder Dogmen.

Meditation

Wird auch geschwiegen?

Schweigen ist auch ein wichtiger Teil der Kurse. Bevor wir mit dem Praktizieren des Einsichtsdialogs beginnen, sitzen wir meist eine halbe Stunde in stiller Meditation. Zwischen den Dialogen gibt es immer wieder Unterbrechungen, in denen man angehalten wird, kurz innezuhalten. Im Dialog selber kann auch eine kurze Stille entstehen, die eine große Tiefe erlaubt.

So zu kommunizieren wäre sicherlich oft hilfreich ...

Genau, aber den Einsichtsdialog nur als Kommunikationswerkzeug zu betrachten wäre sehr einengend und begrenzend, denn dieser führt viel tiefer. Es geht darum, Einsicht zu entwickeln, wie die Dinge wirklich sind, sich der Vergänglichkeit und Leidhaftigkeit bewusst zu werden. Manchmal wird der Einsichtsdialog als Kommunikationswerkzeug missverstanden, da dieser eben auch die Möglichkeit bietet, sich wirklich mit Menschen zu verbinden, und viele haben die Sehnsucht danach. Es ist aber nicht das eigentliche Ziel der Praxis.

Welche Vorteile hat der Einsichtsdialog gegenüber der klassischen Vipassana-Meditation?

Im Alltag macht sich bemerkbar, dass die Achtsamkeit und Klarheit nach einem Schweige-Retreat sehr schnell verloren gehen, vor allem in Bezug auf die Interaktion mit anderen Personen. Der Einsichtsdialog ist zwar eine Form von Vipassana, aber durch das gemeinsame Praktizieren und Kommunizieren lässt sich diese leichter ins tägliche Leben mitnehmen. Es ist eine große Herausforderung zu meditieren, während man spricht oder zuhört. Im Satipatthana Sutta, den Grundlagen der Achtsamkeit, hat Buddha gesagt, dass Meditation beim Sprechen und beim Schweigen zu üben ist. Dies gilt es zu lernen.

Und im Alltag umzusetzen ...

In der formellen Praxis des Einsichtsdialogs ist es sehr einfach, die Qualitäten, wie das tiefe Zuhören oder die Präsenz, umzusetzen. Im Alltag kann es für manche auch eine Herausforderung sein, denn man muss sich ständig daran erinnern, innezuhalten und Achtsamkeit zu etablieren. Ohne gelingt es nicht, tiefer zuzuhören und einfühlsamer zu sein. Es geht auch darum, mehr Geduld zu entwickeln, mit den Mitmenschen, aber auch sich selbst gegenüber. In hitzigen Debatten oder wenn es schwierig wird in der Kommunikation, lernt man dadurch, die Situation zu entspannen.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 115: „Rede mit mir!"

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Wie sind Sie zu dieser Meditationsform gekommen?

Ich fand es schon sehr früh spannend, mich mit Kommunikation zu beschäftigen. Auch merkte ich, dass ich mit meiner Form der Kommunikation immer mal wieder Schaden angerichtet habe. Ein Mönchsfreund und Lehrer von mir hat mir eines Tages den Einsichtsdialog empfohlen. Im Jahr 2005 habe ich in der Schweiz die Praxis kennengelernt. Es hat mich umgehauen! Ich war erstaunt, welche tiefe Meditation dort erlebbar war. Meine Begeisterung hat dazu geführt, dass ich mich zum Lehrer ausbilden ließ. Weltweit gibt es eine Gemeinschaft von etwa vierzig Lehrerinnen und Lehrern sowie Anleiterinnen und Anleitern. Wir haben jedoch kein festes Zentrum. Im Moment bin ich noch der einzige deutschsprachige Retreat-Lehrer. Derzeit gibt es ein ganzes Netzwerk von Anwärtern in Ausbildung, unter anderem sind Harald Reiter und Stefan Hanser Anleiter, sie führen deutschsprachige Praxisgruppen.

Die sechs Leitlinien des Einsichtsdialogs

  1. Innehalten: Achtsam sein, den normalen Fluss des Geistes unterbrechen, im Hier und Jetzt ankommen.
  2. Entspannen: den Körper entspannen, den Geist beruhigen und Empfindungen, Gedanken und Gefühlen, die vorhanden sind, erkennen und annehmen. 
  3. Öffnen: Achtsamkeit im Innen und im Außen etablieren, Augen geöffnet halten, sich aktiv auf das Gegenüber einlassen.
  4. Einstimmen auf das, was entsteht: sich einlassen auf die Gedanken und Gefühle, wie sie entstehen und wieder vergehen, sich mit der Vergänglichkeit auseinandersetzen.
  5. Tief zuhören: mit einem offenen und entspannten Bewusstsein zuhören, nicht auf das Gesagte reagieren, beobachten, auf die Worte des Gegenübers achten.
  6. Die Wahrheit sprechen: die subjektive Wahrheit der Erfahrungen mit Achtsamkeit in Worte fassen.

 

 Weitere Informationen zum Einsichtsdialog:

www.einsichtsdialog.de
www.insightdialogue.org

Bhante Sukhacitto ist seit 1990 voll ordinierter Mönch der Theravada-Tradition. 2005 lernte er den Einsichtsdialog kennen, und seit 2010 lehrt er weltweit. Inspiriert durch die Kraft der zwischenmenschlichen Meditationspraxis leitete er von 2016 bis Anfang 2020 das Kalyana Mitta Vihara – Haus der Edlen Freundschaft. Seine Vision ist eine Gemeinschaft, die ein Dhammazentrum etabliert, in der gelebte spirituelle Freundschaft ein Schwerpunkt ist. www.dhammadialog.de

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Ester Platzer

Ester Platzer

Ester Platzer, 1979, lebt in Wien und ist Mitglied der Chefredaktion bei Ursache\Wirkung. Davor lebte und arbeitete sie viele Jahre in Ostafrika. Ester absolvierte ihr Magisterstudium in internationaler Entwicklung an der Universität Wien.
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