Eine Krise hinterlässt Scherben. Was aber, wenn wir sie nicht wegwerfen, sondern wieder zusammensetzen und veredeln? Im japanischen Kintsugi vergoldet man Scherben und meistert damit Probleme.
Vor etwas mehr als zwanzig Jahren hat Andrea Löhndorf begonnen, sich für den Buddhismus zu interessieren. Zen, tibetischer Buddhismus, Vipassana – sie vertiefte sich in alle großen Traditionen. In einer schwierigen persönlichen Lebenssituation entdeckte sie die japanische Lebensphilosophie des Kintsugi. Eigentlich ist Kintsugi ein traditionelles Kunsthandwerk, in dem aus Scherben mithilfe von Goldpuder Kunstwerke geschaffen werden, die noch kostbarer sind als die ursprünglichen Gegenstände. Daraus hat sich eine Lebenslehre entwickelt, die hilft, sich nach Niederlagen ein neues Leben aufzubauen. Andrea Löhndorf, Lektorin im Bereich Psychologie, Spiritualität und Lebenshilfe, hat darüber ein Buch geschrieben. Im Gespräch mit U\W erklärt sie, wie man aus der „Problemtrance“ herauskommen kann, ganz gleich, ob es sich um globale Krisen oder persönliche Schicksalsschläge handelt.
Vergolden ist nicht das Erste, woran man in Bezug auf Japan denkt. Es herrscht eher ein Klischee der Schlichtheit vor. Wie passt das zusammen?
Das Gold im traditionellen Kintsugi-Handwerk wird behutsam verwendet, sodass die goldenen Linien auf den Schalen zart und natürlich wirken und dem japanischen Ideal der Schlichtheit entsprechen. Das Besondere an Kintsugi ist, dass es die Aufmerksamkeit nicht von den Brüchen weglenkt, sondern sie sogar betont. Wie ein Modell, das die Zahnlücke zu seinem Markenzeichen macht. Gerade das, was nicht perfekt ist und nicht der Norm entspricht, ist kostbar und einzigartig.
Wie kamen Sie zum Kintsugi?
Ich stieß auf diese Lebensphilosophie, als ich mich gerade von einer schweren Wirbelsäulen-OP erholte. Ein großartiger Chirurg hatte mich vor Lähmungen bewahrt, doch war eine große Portion Geduld nötig, bis mein Körper wieder in Form war. Ich fühlte mich zeitweise tatsächlich wie zerbrochen und wieder zusammengekittet. In schwierigen Zeiten werden wir uns unserer Verletzlichkeit bewusst, und das kann Angst machen. Kintsugi zeigt aber, dass Verletzlichkeit keine Schwäche darstellt, sondern eine Chance auf Wachstum und innere Stärke.
Wie lehrt das Handwerk, mit Krisen umzugehen?
Jede Krise ist einzigartig, deswegen gibt es nicht das eine große Patentrezept, das sich auf jede Situation anwenden lässt. Aber Kintsugi bietet eine Reihe von sehr hilfreichen Werkzeugen an. Am Beginn nahezu jeder Krisenbewältigung steht die Akzeptanz. Akzeptanz heißt, den inneren Widerstand aufzugeben gegen das, was geschieht. Das erst setzt die Kräfte in uns frei, die wir brauchen, um im Äußeren Dinge zu verändern. Weitere sind Mitgefühl, auch mit uns selbst, Achtsamkeit, Sinn, kleine Ziele und die Verbundenheit mit anderen. Wie wichtig gerade Letzteres ist, zeigt die Corona-Krise: Social Distancing erschwert das Miteinander enorm, gleichzeitig ist uns bewusst geworden, wie wichtig Verbundenheit ist, um schwierige Zeiten zu bewältigen.
Was ist besonders wichtig?
Solidarität wird so häufig geäußert wie lange nicht mehr. Stephen Hawking warnte kurz vor seinem Tod in geradezu prophetischer Manier, dass das Überleben der Menschheit davon abhänge, ob die Empathie sie wird retten können. Wie recht er hatte, sehen wir heute: Wir brauchen einander – in unserem direkten Umfeld und über die Staatsgrenzen hinweg.
Sie schreiben, dass die Krisenpsychologen aus dem Westen dem Kintsugi ähnlich sind. Inwiefern?
Der bekannte Krisenpsychologe Georg Pieper beispielsweise, der nach dem großen Tsunami 2004 Opfer betreute, nennt Akzeptanz und soziale Unterstützung als wirkungsvolle Schutzschilde gegen die Gefahr, von einer Krise überfordert zu werden. Er spricht von der Wichtigkeit, im Hier und Jetzt zu leben und sich in schwierigen Zeiten kleine, erreichbare Ziele zu setzen.
Was noch?
Es gibt noch mehr Parallelen, denn Kintsugi ist im Kern eine Methode, um Resilienz zu entwickeln und mit ihrer Hilfe schwierige Zeiten zu überstehen. Doch es führt noch darüber hinaus: Kintsugi legt die Idee nahe, dass man mit dem Material seines Lebens umgehen kann wie ein Künstler und dass jede Krise eine schöpferische Kraft in unserem Leben entfalten kann.
Wie hilft Kintsugi, zu akzeptieren und eben nicht zu erstarren?
In schwierigen Zeiten verfallen wir leicht in eine Problemtrance und lassen zu, dass das Problem unser ganzes Erleben ausfüllt. Um wieder Kraft zu gewinnen, müssen wir uns Raum geben für alles, was sonst noch da ist. Wir können die schwierige Situation als Teil eines größeren Bildes sehen, das von all den positiven Dingen in unserem Leben eingerahmt wird. Und wir können darauf vertrauen, dass der Bruch nicht das Ende bedeutet, sondern eine Station auf einer bedeutsameren Reise.
In Krisen ist es aber ja oftmals schwer, eben das große Bild zuzulassen. Gibt es dafür Übungen?
Achtsamkeit ist heute zwar zu einem Modebegriff geworden, doch ist eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis tatsächlich eine der besten Übungen dafür, egal, ob man MBSR, Zazen oder eine der anderen klassisch buddhistischen Formen ausübt. Sie hilft, sich von Gefühlen der Panik und Unruhe besser lösen und distanzieren zu können. Eine konkrete Übung zur Akzeptanz ist die „Geschichte einer Suche“: Statt sich als Opfer zu sehen, erzählt man sich die Geschichte einer Suchreise, auf der die momentane Situation eine besondere Herausforderung darstellt, die einen jedoch voranbringen wird – durch den Schatz an wertvollen Erfahrungen, die man gerade macht.
Wo liegen da die Vorteile?
Lebenskrisen können einen fürchterlich aus der Bahn werfen. Wenn man mitten in der Problemtrance steckt, kann alles schwierig und lebensbedrohlich erscheinen. Kintsugi bringt da ein wenig Leichtigkeit und etwas Spielerisches hinein. Es gibt kein Leben ohne Brüche, keins, in dem nicht hin und wieder Dinge repariert werden müssen. Wenn die Dinge schon so sind, wie wir sie vorfinden – ob uns das gefällt oder nicht –, dann können wir auch den Versuch wagen, das Beste aus ihnen zu machen und sie bewusst zu gestalten.
Was passiert dann?
Nachdem der erste Schock vorüber ist, kann das sogar spannend sein. Es geschieht nicht selten, dass gerade die Krise den entscheidenden Impuls für eine Lebensänderung gibt, die später als heilsam und sogar als absolut notwendig empfunden wird. „Wer weiß, wofür es gut ist“, lautete einer der Lieblingssätze meiner Großmutter, die zwei Weltkriege und zwei Fluchten überlebt hat. In unserer Zeit der Selbstoptimierung suchen wir viel zu oft nach dem perfekten Lebenslauf, statt uns zu fragen, was wirklich wichtig für uns ist.
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Meinen Sie, wir haben verlernt, die Schönheit im Unvollkommenen zu sehen?
Ich denke schon. Vieles ist heute ein Muss geworden. Dieses Muss, ständig zu performen, Bestleistung zu erbringen und gut drauf zu sein, lastet als Druck vor allem auf jungen Menschen. Es wird leicht vergessen, dass wir nicht außergewöhnlich oder makellos sein müssen, um liebenswert zu sein.
Wie soll das gelingen?
Mit einer Fastenkur. Wer täglich auf Instagram geht und dort von vermeintlich wunderschönen Bildern umgeben ist, der wird – ganz ehrlich – nicht aufhören können, sich mit anderen zu vergleichen. Es geht darum, sich selbst wie einen guten Freund oder eine gute Freundin zu sehen. Sucht man bei diesen die Perfektion? Das Mitgefühl, das wir ihnen gegenüber empfinden, dürfen wir auch uns selbst zugestehen.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 114: „Balance finden"
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