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Achtsamkeit & Meditation

Atem spüren, Sinneseindrücke erleben, in den Flow kommen: Was man in acht Tagen Vipassana-Retreat erleben kann – ein Erfahrungsbericht.

Vor vier Jahren belegte ich den ersten zehntägigen Vipassana-Kurs und wunderte mich über Kursbesucher, die zum dritten, fünften oder zwanzigsten Mal kamen. Meiner Vorstellung nach würde ich die Technik des Meditierens erlernen und zu Hause umsetzen. Jetzt trete ich zum dritten Mal an, da ich an der nötigen Disziplin gescheitert bin.

Als sogenannter alter Schüler, zu dem man nach dem ersten durchgemachten Zehntageskurs zählt, hat man ein leicht abgeändertes Programm. Die ersten drei Tage beobachte ich den Atem. Ich versuche, die Berührung des Luftstroms im Bereich zwischen Nasenlöchern und Oberlippe, auch des leisesten Atemzugs, zu spüren. Gedanken aus Vergangenheit und Zukunft, die das verrückte menschliche Gehirn unweigerlich generiert, werden zur Kenntnis genommen und anschließend wird zurück auf den Atem fokussiert. Ich habe mir vorgenommen, den Anweisungen von S. N. Goenka – dem schrulligen Lehrer, der über Ton- und Videoaufzeichnungen unterrichtet – exakt zu folgen und nicht wieder bei Schwierigkeiten Resignationspausen einzulegen.

Im rigiden Programm wird täglich zehn Stunden meditiert. Goenka verlangt von den alten Schülern, auch in den Pausen keinen einzigen Atemzug unbeobachtet zu lassen. Vom morgendlichen Gong um vier Uhr bis zum Moment, in dem ich in den Schlaf sinken werde, will ich mich nicht ablenken lassen. Weder während der Spaziergänge im Garten noch durch die anderen dreißig Kursteilnehmer und sieben Helfer. Frauen sind in einem anderen Teil des Zentrums untergebracht. Sie meditieren zwar in derselben Halle, aber örtlich getrennt auf der rechten Seite. Jeglichen Blickkontakt vermeidend, werde ich am Ende des Kurses nicht jeden Teilnehmer registriert haben.

Vipassana


Es gelingt mir, die Gedanken zu reduzieren, den Atem zu finden und nicht mehr von ihm abzulassen. Nicht bei akustischen oder visuellen Störungen und nicht bei den einzigen beiden Mahlzeiten um 6.30 Uhr und elf Uhr vormittags. Den Beobachtungsbereich der Atmung verkleinere ich wie angewiesen. Bis er am Tag drei noch die Größe eines sanften Abdrucks des kleinen Fingers hat. Ich bin eins mit dem Atem, spüre, wie er einer Maschine gleich selbstständig abläuft. Ich bin der Atem.

Im rigiden Programm wird täglich zehn Stunden meditiert.

Bei Tagesanbruch des vierten Tages sollen wir den Atem außer Acht lassen und die Empfindungen im Visier haben. Druck, Jucken, Spannung, Wärme, Feuchte, Kälte, Zittern, Vibrationen, Schwingungen und andere physikalischen Wahrnehmungen. Goenka nennt sie „sensations“. An ihnen orientiert sich die Vipassana-Technik. Um fünfzehn Uhr wird diese Technik in einer zweistündigen Sitzung erläutert. Man tastet geistig den gesamten Körper auf einer fixen Route von Kopf bis Fuß nach „sensations“ ab und schärft damit die Achtsamkeit. Die zweite Aufgabe ist es, gleichmütig zu bleiben. Gleichmut zu entwickeln gegenüber dem schmerzenden Rücken, aber auch gegenüber etwaigen schönen Gefühlen: keine Ablehnung und kein Verlangen zu generieren. Schafft man das auf dieser Ebene des Unterbewusstseins, soll das laut Siddhartha Gautama – dem Buddha – auf der makroskopischen Ebene die gleiche Wirkung entfalten. Der Geist reagiert ausschließlich auf den eigenen Leib und auf nichts außerhalb dieses Rahmens. Wird man beleidigt, sendet das Unterbewusstsein körperlich unangenehme Gefühle aus, und der Intellekt reagiert ablehnend. Erhält man ein Kompliment, kommen unbewusste angenehme Gefühle. Man möchte mehr davon und entwickelt Begierde. Ablehnung und Begierde sind nach buddhistischer Philosophie die Wurzeln von Leid.

Vipassana


Während der Vipassana-Meditation spürt man, wie sich die „sensations“ laufend verändern. Wie der Schmerz kommt und geht. Wie angenehme Gefühle auftauchen und beim nächsten Durchlauf die Pein dominiert. Die universelle Eigenschaft von allem im Universum wird körperlich erfahren: Alles ist Veränderung.
Ich beginne in den kommenden Stunden, verschiedenartige feine Empfindungen an einigen Stellen der Haut zu spüren. Dies gelingt schneller als bei den vorangegangenen Kursen. Zum einen sind die Schmerzen in Rücken und Beinen viel geringer, da ich meine Meditationsposition optimiert habe. Zum anderen scheint mein Gleichmut tatsächlich gestärkt zu sein. Ich weiß aus Erfahrung, dass sich der größte Schmerz im Rücken während einer Meditationssitzung in angenehme Schwingungen auflösen kann. Es gelingt mir seit dem ersten Tag, eine Stunde völlig regungslos mit geschlossenen Augen zu sitzen.

Am fünften Tag verspüre ich beim geistigen Marsch über die Oberfläche des Körpers auf jedem Quadratzentimeter deutliche „sensations“. Die letzten schmerzenden Stellen lösen sich erst am sechsten Tag in feine Vibrationen auf, und dann gelingt der „free-flow“. Als ich das beim ersten Kurs erleben durfte, warf es mich aus der Bahn. Die Begierde nach mehr „free-flows“ wurde geweckt. Ich war für Tage blockiert und konnte kein solch intensives Gefühl mehr erzeugen. Im zweiten Kurs gelangen mir kurze Momente des absoluten Glücks. Ich wollte unbedingt mehr erreichen und scheiterte kläglich. Heute bewahre ich den Gleichmut, und es gelingen mehrere Flows.

Vipassana


Mitten in der Nacht werde ich durch eine knallende Tür geweckt. Sofort strömt ein angenehmes Gefühl wellenförmig über meine Haut. Es kribbelt wie die müden Beine, abends nach einer anstrengenden Wanderung, nachdem man die schweren Schuhe ausgezogen hat. So, als ob viele Hände über die Haut streichen und sie massieren. Am Rücken vibriert es, als wenn es mich fröstelt, aber ohne die Kälte zu fühlen. Die angenehmen Empfindungen wandern wie schon zuvor von Kopf bis Fuß und zurück. Fast ohne mein Zutun, und ich verstehe zum ersten Mal, wie das geht, den Gleichmut zu bewahren und zu genießen. Ich bin im Jetzt!

Ich bin eins
mit dem Atem, spüre, wie er einer Maschine gleich selbstständig abläuft. Ich bin der Atem.

Am nächsten Tag, es ist der siebte, kommen beim Meditieren sexuelle Fantasien auf. In der Pause möchte ich spazieren gehen, doch meine Mütze ist unauffindbar. Draußen hat es Minusgrade, und der Wind bläst. Eine solch gewöhnliche Mütze würde niemand stehlen, wahrscheinlich hat sie jemand versehentlich eingesteckt. Trotzdem werfen mich diese beiden Ereignisse aus der Bahn, und ich bin für die nächsten 24 Stunden blockiert. Mich an Goenkas mahnende Worte haltend, verliere ich den Gleichmut nicht. Die Messlatte einer guten Meditation sind nicht die „free-flows“, sondern die Bewahrung des Gleichmuts.

Am achten Nachmittag gelingt es. Ich löse mich in angenehme Schwingungen auf. Die Technik verlangt, erneut den Leib Stück für Stück abzutasten und erst dann dem Fluss der Gefühle wieder freien Lauf zu lassen. Die Empfindungen werden stärker, der Gleichmut bleibt. Jetzt bin ich dort, wo Goenka mich haben wollte. Achtsam und gleichzeitig gleichmütig. Kurz bevor ich den Schlaf finde, nehme ich deutlich den eigenen Atem wahr. Das Gehirn stellt davon wie getriggert auf „free-flow“ um. Für Stunden fließt eine intensiver werdende Erregung durch den Körper, und ich beginne gedanklich die Oberflächen zu durchdringen. Taste mich durch meine physische Gestalt. Vom Rücken zur Brust, vom Schädel zum Steißbein, von links nach rechts und in die Körperöffnungen hinein. Angenehm, erregend, ekstatisch. Stunden später fühle ich Erschöpfung. Ich möchte schlafen. Es klappt nicht. Die Empfindungen hören nicht auf. Ich bleibe schlaflos, bis der morgendliche Gong ertönt und ich mich bereit für die Meditationshalle mache. Nun streicheln die paradiesischen Hände auch mit geöffneten Augen. Es beginnt mir zu viel zu werden. Das Gefühl, nicht mehr Herr der Lage zu sein, bringt unangenehme Erinnerungen an eine lang vergangene Drogenerfahrung hervor.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 112: „Für eine bessere Welt"

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In der folgenden Unterrichtseinheit erklärt Goenka, wie der Leib komplett aufzulösen ist, bis der „free-flow“ wie ein Tropfen Tinte ein Glas Wasser durchströmt. Mir gelingt es, seine Anweisungen umzusetzen. Beim letzten Schritt setzt Furcht ein. Der Tintentrick misslingt. Ich fühle mich trotz der angenehmen Gefühle nicht mehr wohl. Als wäre ich den „sensations“ ausgeliefert. Darum bin ich froh, den Kurs an diesem neunten Tag zu beenden. Das war von Anfang an geplant, da ich mich um meine Kinder kümmern muss.

Ich fahre zurück in die Zivilisation, ab da treffe ich auf Süchtige. Nicht die Süchtigen nach Leben, sondern jene nach Konsum, Bier, Chips oder Tabak. Und auf die Verdummungsseuche des 21. Jahrhunderts, das Smartphone. Menschen, die stundenlang auf Bildschirme starren und die Realität digital ausblenden. Leonardo da Vinci kam zur Erkenntnis, von Nahrungsdurchläufern und Füller der Aborte umgeben zu sein, die nichts anderes zurücklassen als volle Scheißhäuser. Ähnliche Gedanken habe auch ich, nur mit mehr Gleichmut, Mitgefühl und Liebe. Könnte ich die liebenswerten Ignoranten doch zu einem Meditationskurs abkommandieren.

Das Vipassana-Retreat wurde besucht im Dhamma Sumeru Vipassana Centre: www.sumeru.dhamma.org

 

Martin Novotny ist Kunststofftechniker. Er war Projektleiter, Entwicklungsleiter, Key Account Manager, Langzeitreisender, Bauleiter, Physik- und Mathematiklehrer sowie Reisebuchautor. Zurzeit ist er in seiner Wahlheimat Schweiz Hausmann und betreut seinen behinderten Sohn. www.v-erfahren.ch

 

Fotos © Dhamma Sumeru Vipassana Centre 

Bild Header & Teaser © Pixabay

Martin Novotny

Martin Novotny

Martin Novotny ist Kunststofftechniker. Er war Projektleiter, Entwicklungsleiter, Key Account Manager, Langzeitreisender, Bauleiter, Physik- und Mathematiklehrer sowie Reisebuchautor. Zurzeit ist er in seiner Wahlheimat Schweiz Hausmann und betreut seinen behinderten Sohn.
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