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Achtsamkeit & Meditation

Meditieren bedeutet für jeden etwas anderes. Der amerikanische Meditationslehrer Shinzen Young versucht, für alle Techniken eine gemeinsame Sprache und ein Einordnungssystem zu schaffen.

Wer sich schon einmal mit anderen Menschen über Meditation ausgetauscht hat, wird schnell bemerkt haben: Meditation ist ein Begriff mit vielen Bedeutungen. Der eine zählt seine Atemzüge, die andere benennt alle aufsteigenden Empfindungen, die nächste Person visualisiert eine übernatürliche Gestalt. In ihrem Buch „Altered Traits“ schreiben Daniel Goleman und Richard Davidson passenderweise, Meditation sei wie Sport – man hat eine grobe Vorstellung davon, aber die Praxiswirklichkeit kann so weit auseinanderliegen wie Boxen und Darts.

Verschiedene Ansätze, Techniken und Praktiken aus den kontemplativen Traditionen der Welt in einer einheitlichen Sprache beschreiben und in eine Art „Periodensystem der Meditationstechniken“ einordnen zu können, ist das Anliegen des US-amerikanischen Meditationslehrers Shinzen Young. Young selbst praktizierte zunächst als Mönch in der japanischen Vajrayana-Tradition Shingon und kam während seiner Zeit in Japan zudem mit Zen in Kontakt. Später widmete er sich klassischen Vipassana-Techniken und nahm an spirituellen Praktiken der amerikanischen Ureinwohner teil. Obwohl diese Traditionen sehr unterschiedlich in ihrer Herangehensweise sind, identifizierte Young drei Fertigkeiten, die in allen Praktiken zu unterschiedlichen Anteilen kultiviert werden. Diese sind Konzentration, also die Aufmerksamkeit auf ein Objekt richten und dort halten, die sensorische Klarheit, also eine maximal klare und detaillierte Wahrnehmung aller Erfahrungen, und der Gleichmut. Letzterer beschreibt eine Geisteshaltung, die den Erfahrungen keinerlei Widerstand entgegensetzt, sie jedoch auch nicht verstärkt. Das Zusammenkommen dieser Fertigkeiten stellt Youngs Definition von Achtsamkeit dar.

Auf Basis dieser Erfahrungen begann Young, ein übergeordnetes System zu formulieren, in das sich die verschiedenen kontemplativen Techniken der Welt kategorisieren lassen. Dieses System trägt den Namen „Unified Mindfulness“ und besteht aus vier Hauptkategorien, die Quadranten genannt werden. Diese tragen die Bezeichnungen „Wertschätzen“, „Transzendenz“, „Positives kultivieren“ und „Spontaneität ausdrücken“ und beinhalten jeweils eine Reihe von verschiedenen Praktiken mit unterschiedlichem Fokus.

Meditieren
Wertschätzen
Die meisten Meditationsmethoden kultivieren eine spezielle Form der Aufmerksamkeit auf bestimmte Meditationsobjekte, zum Beispiel den Atem oder den Körper. In Youngs System ergeben sich zwei grundlegende Fokusoptionen: Die Aufmerksamkeit kann sowohl nach innen als auch nach außen gerichtet werden. Äußere und innere Sinneseindrücke bilden zusammen das gesamte Erleben eines Menschen. Grob unterteilt können diese Sinneserfahrungen über drei verschiedene Kanäle ins Bewusstsein treten: Sehen, Hören und Fühlen. Geruchs- und Geschmackssinn werden aus Übersichtlichkeitsgründen dem Bereich „Fühlen“ zugeordnet. Äußeres Sehen, Hören und Fühlen richtet sich auf das, was wir sehen, auf die Geräusche, die wir wahrnehmen, und die körperlichen Erfahrungen. Inneres Sehen, Hören und Fühlen richtet sich auf visuelle, verbale und lautmalerische Gedanken sowie auf emotionale Erfahrungen.

In jedem der drei Sinnessysteme können zudem zwei Zustände vorherrschen: Aktivität und Ruhe. Dabei können entweder alle drei Systeme aktiv sein oder einzelne, zum Beispiel nur inneres Sehen und äußeres Hören, wenn man ein Motorengeräusch hört und sich dazu im Kopf das Bild eines Autos formt. Reagiert man nicht körperlich oder emotional darauf, herrscht im Fühlen-Bereich Ruhe vor. Steigt Ärger über das laute Geräusch auf, wäre dies eine Aktivierung im inneren Fühlen-Bereich, und es wären wieder alle drei aktiv. Genauso gut kann es zu Ruhe in allen Sinnesbereichen gleichzeitig kommen. Im Gegensatz zu vielen klassischen Ansätzen wird in Youngs System keinerlei Anker, wie etwa der Atem, benutzt, zu dem man zurückkehrt. Mit Achtsamkeit wird immer dem begegnet, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dabei gibt es die Möglichkeit, exklusiv vorzugehen, das heißt, nur in einem Sinnesbereich zu meditieren, oder aber mehrere oder alle einzubeziehen.

In diesen Bereich fallen die klassischen Vipassana-Techniken. Ein Bodyscan etwa ist eine Meditation in den Bereichen inneres Fühlen und äußeres Fühlen, Vipassana in der Mahasi-Sayadaw-Tradition arbeitet in allen Sinnesbereichen, sowohl innen als auch außen.



Transzendenz und Positives
Auch hier werden die Phänomene in die Bereiche des inneren und äußeren Sehens, Hörens und Fühlens eingeteilt, der Fokus wird jedoch auf die grundlegende Qualität der Erfahrungen gelenkt. Ein Beispiel aus dieser Kategorie ist Youngs eigene Technik „Fließen/Sehen/Hören/Fühlen“. Jede Art von Veränderung, die wahrgenommen wird, stellt Fließen dar. So verändern sich zum Beispiel Bilder vor dem geistigen Auge und schaffen fließende Übergänge zwischen Szenerien. Endet der Sinneseindruck abrupt, kann der Moment dieses plötzlichen Verschwindens ebenfalls als Meditationsobjekt dienen. In Youngs System wird dieser als „gone“ (engl. weg, fort) bezeichnet. Die Praxis ist kein Kontemplieren abstrakter Vorstellungen von Vergänglichkeit, sondern vielmehr direkter Kontakt mit der Erfahrung von Veränderung von Moment zu Moment. Ein anderes Beispiel wäre die Aufmerksamkeit von den Erfahrungen hin zum Bewusstsein zu lenken, das diese wahrnimmt.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 111: „Unterwegs - ein Abenteuerheft"

UW111 Cover


In den drei Sinnessystemen können zudem bewusst positive Inhalte kultiviert werden. Die klassische Metta-Meditation, in der man einen Satz wie „Mögest du glücklich sein“ oder ähnlich rezitiert, wäre ein Beispiel für den Bereich gutes Hören, sich eine Person positiv zu visualisieren: gutes Sehen oder das Gefühl der Zugewandtheit im eigenen Körper: gutes Fühlen.

Spontaneität ausdrücken
In diesem Quadranten werden verschiedene Techniken zur Entwicklung spontanen Ausdrucks, wie er beispielsweise im Zen von Bedeutung ist, gesammelt. Hier wird der Fokus auf die spontane, also nicht willentlich gesteuerte Qualität von Bewegungen, aber auch auf Sprache und Gedanken gelenkt. Ferner enthält dieser Bereich auch die Technik „Autofokus“ beziehungsweise „nichts tun“, eine Form der Meditation, bei der jede Intention, die eigene Aufmerksamkeit auf etwas Bestimmtes zu lenken, fallen gelassen wird. Damit steht die Technik unter anderem in der Tradition des Zen-typischen „Nur-Sitzens“.
Das System wird fortlaufend erweitert, und auch wenn es noch nicht alle Traditionen und Techniken umfasst, so bietet es doch eine Grundlage für eine gemeinsame, säkulare Sprache über Meditation und einen Überblick über eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Meditierenden offenstehen.

David Jahnke, geboren 1992, studiert derzeit Psychologie im Master an der Ruhr-Universität Bochum und praktiziert seit 2011 verschiedene Meditationsformen, insbesondere Vipassana.

Bilder © Pixabay

David Jahnke

David Jahnke

David Jahnke, geboren 1992, studiert derzeit Psychologie im Master an der Ruhr-Universität Bochum und praktiziert seit 2011 verschiedene Meditationsformen, insbesondere Vipassana.
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