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Achtsamkeit & Meditation

Es war drei Uhr in der Früh. Ich wachte schweißgebadet aus einem Traum auf. Nein, nein, so kann es nicht weitergehen, dachte ich. Mein Herz raste noch immer. Die Bedrohung war so real gewesen, real und Teil meines damaligen Lebens.

Im Traum schien sie mich aufzufressen. Nein, so nicht weiter, bitte nicht! „Ich kann nicht mehr!“ Ich sah zur linken Bettseite. Meine Frau schlief, ruhig und friedlich ihr Atem. Ganz leise schob ich die Decke zur Seite. Meine Füße suchten in der Dunkelheit meine Hausschuhe. Ich stand auf und ging so leise wie bei diesem alten Holzboden nur möglich aus unserem Schlafzimmer. Ich musste weg. Ich konnte so nicht weiterleben; die Bedrohung war zu groß. Allein der Gedanke an sie ließ mir den Atem stocken.

Ich zog den alten Rucksack vom Kasten. Er stammte noch von meinem Großvater, Mutters Vater. Mit ihm war er im Krieg auf dem Schwarzmarkt unterwegs gewesen, um seinen eigenen Honig gegen andere Lebensmittel für die Töchter zu tauschen. Im Ersten Weltkrieg hatte er gekämpft, im Zweiten war er schon zu alt gewesen. Er wurde 91 Jahre alt. Ich konnte mich noch gut an ihn erinnern. Streng war er immer gewesen, zu meiner Mutter und ihrer Schwester, streng, aber gerecht. So hatte ich ihn in Erinnerung. Ich nahm den Rucksack und stopfte ihn voll mit Gewand, vor allem mit warmen Sachen. Es war Herbst.

Im Wald würde es kalt sein, vor allem in der Nacht. In die Seitentaschen packte ich ein paar Medikamente und Essen, was gerade so da war im Kühlschrank und in den Regalen davor. Es war still im Haus. Selbst die Hunde rührten sich nicht. In mir tobte ein Krieg. Nur weg! Ich band noch eine dicke Wolldecke oben auf den Rucksack, schnürte meine Waldviertler-Eisbär-Schuhe an meine Füße, nahm in der Scheune noch eine Langstielschaufel und rannte beim Gartentor hinaus. Geschafft!

Allein der Gedanke an sie ließ mir den Atem stocken.

Die nächsten Schritte führten mich direkt in den Wald, der hinter unserem Haus begann. Ich marschierte so schnell den Berg hinauf, dass ich bald meine Jacke öffnen und dann auch noch meinen Pullover ausziehen musste. Ich ging und ging, ohne mich umzublicken. Erst nach Stunden beruhigte sich langsam mein Geist. Der gleichmäßige Schritt und die regelmäßige, angestrengte Atmung versetzten mich in eine Art Trance, ähnlich dem Traum, aus dem ich entflohen war. Ohne eine Rast zu machen, schritt ich den ganzen Tag weiter, einfach nur weiter, bis es schließlich wieder dunkel wurde. Die Nacht half mir, meinen Weg endgültig zu verlieren, in Unbekanntes vorzudringen. Die Wälder nahmen kein Ende und brachten mich weit, weit weg von allem, was mir Bedrohung, aber auch Sicherheit geboten hatte.

Langsam ging die Sonne auf. Ich hatte weder gegessen noch getrunken. Ich war weder stehen geblieben noch hatte ich zurückgeblickt. Im Morgengrauen erkannte ich die Umrisse einer Höhle. Etwas hatte mich genau an diese Stelle geführt. Ich war im Nirgendwo gelandet, im tiefsten Wald, ohne Spuren jeglicher Zivilisation. Ich hatte es geschafft, wegzukommen, zu fliehen. Ein leises Plätschern führte mich zu einem Bergbach direkt hinter der Höhle. Mit meiner Langstielschaufel legte ich den völlig verwachsenen Eingang der Höhle frei, setzte meinen Rucksack auf den Boden und mich daneben. Ein Adler zog weit oben seine Kreise über meinem Kopf. Er schrie und fixierte mich mit seinen Augen. Um aus seinem Bewusstsein zu verschwinden, rührte ich mich nicht, erstarrte im Sitzen, ließ meine Atmung so flach werden, dass keine Regung meines Brustkorbes sichtbar war. Er zog weiter. Doch ich spürte die Bedrohung des Waldes. Tiere schienen mich bereits zu beobachten und mich als mögliche Speise zu sondieren. So saß ich in meiner Meditationshaltung, ohne wahrnehmbare Atmung, ohne jegliche Regung und wurde Teil der Umgebung, Teil der Natur, schließlich Teil der Ruhe und Teil der sanften Bewegungen, die Wind und Wasser in der Nähe vollführten. Alles in mir schien sich an die Umgebung anzupassen. Selbst mein Körpergeruch verschwand, meine Körpertemperatur senkte sich ab. Ich wurde zu einem lebenden Stein und Teil der Unendlichkeit des Augenblicks. Mein Geist hatte meinen Körper scheinbar verlassen. Er wollte nichts, er verlor sich im Sein. Endlich keine Gefühle, endlich keine Angst mehr, endlich unsichtbar für jeden und alles, endlich ohne Bedürfnisse, endlich angekommen.

Die Lippen meiner Frau berührten sanft mein linkes Ohr. „Aufwachen“, flüsterte sie. Ihre Lippen kitzelten mich. Zusammen mit der Bettwärme und der Nähe ihres Körpers konnte und wollte mein Geist meine Augen noch nicht öffnen. Nun waren ihre Lippen in meinem Nacken angekommen. Ich lächelte. „Es ist Montag, wir müssen ...!“, flüsterte sie. Ich drehte mich zu meiner Frau, damit sie mein Lächeln sehen konnte, und küsste sie. Dann zog ich mir die Bettdecke nochmals über den Kopf, die sie mir lachend entriss, worauf sie mich mit den Füßen aus dem Bett drängte.

Erst nach Stunden beruhigte sich langsam mein Geist.

Die Zeit drängte, wie an so vielen Montagen davor und vielleicht auch danach. Wir schlichen auf Zehenspitzen durch die drei Kinderzimmer – so ist es in unserem alten Bauernhaus: die Zimmer wie Perlen auf einer Perlenkette aufgefädelt –, im Wohnzimmer die Begrüßung der zwei Hunde, wobei man dann gleich einmal eine Zunge im Gesicht spürte – das Raufspringen wollten wir ihnen eigentlich abgewöhnen, wenn es nicht so süß gewesen wäre ... –, ich weiter ins Bad, Sandra in die Küche. Ich zog mich gleich an. Beim Blick in den Spiegel sah ich müde, alte Augen. Beim Öffnen der Haustür die nächsten Sprünge der Hunde gegen meinen Körper. Es war noch dunkel draußen. Sechs Uhr fünfundzwanzig. Es war Herbst.

Nach dem Gartentor bogen wir drei nach rechts. Dort die ‚erste Markierung‘ der zwei Hunde. Nach etwa 20 Metern Wiese waren wir auch schon wieder im Wald. Ich sah nichts. Meine Füße kannten den Weg, die Hunde sowieso. Nach ein paar Minuten stand ich an der Klippe des Steinbruchs, bei der es etwa 100 Meter steil hinunterging, und starrte in die dunkle Unendlichkeit. War sie noch hier, die Stille? War die Einheit mit allem noch da? Ich setzte mich auf den Boden, spürte die Kälte aber nur kurz. Man spürt nur den Unterschied, die Veränderung. Dann wird es gleich, es verschmilzt, sei es Temperatur oder Zeit. Ist die Zeit relativ oder beliebig?

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Die Hunde witterten die Bergziege, die im Steinbruch lebte, und begannen, unruhig zu werden. Ich war wieder da. Ich würde später ins Sitzen zurückkehren, ins Einswerden. Ich stand auf und schlug den Weg zurück zu unserem Haus ein, immer bedacht darauf, ja über all die umgefallenen Föhren zu steigen (auf einem Steinbruch können sich Bäume nicht gut verwurzeln und fallen irgendwann um; trotzdem oder gerade deshalb wachsen ständig neue Föhren nach) und nicht zu stürzen. Unser Grundstück betraten wir drei über die ‚Hintertüre‘ vom Wald her. Die Hühner liefen uns nun schon entgegen und schafften mit ihrem lauten Gegackere die ersten intensiven akustischen Eindrücke meines Geistes an diesem Tag. Sandra hatte, wie jeden Morgen, bereits das Frühstück fertig, als ich in die Stube trat. Die Hunde wie immer voran auf der Suche nach ihrem gefüllten Napf, ich hinterher. Ich setzte mich neben meine Frau auf den Barhocker an unserem kleinen Frühstücksplatz in der Küche. Die Uhr an der Wand tickte im Rhythmus von 60 Schlägen pro Minute, was mir um diese Tageszeit unendlich schnell vorkam. Ich lehnte mich an meine Frau, wollte ihre Wärme spüren, ihre Nähe einsaugen. Wir hatten uns immerhin wegen meines morgendlichen Spazierrundgangs mit den Hunden knapp zehn Minuten nicht gesehen. Wir hatten noch etwa 20 Minuten für uns, dann sollten wir die Kinder aufwecken, um sie rechtzeitig in die Schule zu bringen. Ein Nachteil, wenn man auf dem Land lebt, ist, dass man für die Kinder oft Fahrtendienst machen muss, und da unsere Kinder in zwei verschiedene Schulen gingen, brachte Sandra Hannah zum Unterricht und ich Daniel und Lena.

Sandra schlug ihr weiches Ei auf, dann erst bestrich sie das selbst gebackene Brot mit Butter. „Und hast du etwas geträumt?“, fragte ich. „Ich glaube, ich träume immer noch!“, sagte sie. „Unser Leben ist doch wie ein Traum, oder nicht?“ „Da hast du recht!“, antwortete ich. „Die Grenzen verschwinden ständig, was geträumt ist und was real!“ „Da hast du recht!“, entgegnete ich. „Ich meine, denke zurück, was wir schon alles erlebt haben! Wie Hunderte Leben in einem einzigen Moment!“ „Wie wahr!“, sagte ich und nickte dazu. Und dann sitzen wir hier, in diesem uralten Bauernhaus, in dem in den letzten 150 Jahren schon so viel Leben war, essen unsere Eier und unser Brot, hören das Ticken der Uhr und sind da, einfach so.

Ich saß in meiner Meditationshaltung, ohne wahrnehmbare Atmung, ohne jegliche Regung und wurde Teil der Umgebung.

Die Sonne geht langsam auf. Ihre Strahlen vertreiben die Kälte, die vom Boden aufsteigt. Doch man spürt sie nur kurz, die Kälte, dann ist schon wieder alles eins. Und mit der Sonne gibt es diesen neuen Tag. Und vielleicht sehen wir wieder ‚unseren‘ Adler, der beständig seine Kreise über uns zieht und uns beobachtet! „Vielleicht beobachtet er eher unsere Hühner und hofft, dass unsere Hunde einmal nicht wachsam sind!“, sagte ich und schmunzelte über die Gedanken meiner Frau. Alles ist eins, alles wird eins. Man muss nur die Zeit arbeiten lassen. Die Zeit verschmilzt Gegensätze und formt die Welt jeden Tag von neuem.

Noch zehn Minuten, bis wir die Kinder zu wecken hatten. Ich griff an meinen Rücken, welcher etwas steif war und schmerzte. Vielleicht hatte ich zu lange im Wald gesessen. Der Kaffee schmeckte wie immer herrlich, diesmal fast besser, als er roch, was ich selten so empfand. „Rosi?“, fragte ich meine Frau und meinte damit das Ei, welches ich gerade aß. „Nein, Lisl!“, sagte sie lächelnd. „Ah ja!“, sagte ich, obwohl ich es eh wusste. Zu lustig, dieses tägliche Raten, von welchem der sieben Hühner wohl das Ei, das man gerade aß, stammte. „Ich weck einmal die Hannah auf, es stresst mich schon wieder alles!“ „Ich weiß, mein Schatz!“, sagte ich. Gewisse Dinge würden sich nie ändern. Ich wankte auch los, um die zwei anderen zu wecken. Meine Hand rieb meinen unteren Rücken. „Aufstehen!“ Licht an, viel zu hell, wusste ich, aber zu warten, bis die Sonne hell genug hereinschien, um die Kinder zu wecken, würde die Durchsetzung der österreichischen Schulpflicht über das Jahr gesehen ins Wanken bringen ... Weitere zehn Minuten später war es nur noch hektisch in unseren alten Mauern.

„Bitte tut weiter! Hannah, iss auf! Lena, ziehst du dich bitte an! Daniel, du musst deine Sachen noch zusammenpacken! Du vergisst sicher wieder die Hälfte!“ Die Uhr an der Wand tickte nun unendlich langsam. Mein Herzschlag hatte ihren Rhythmus längst auf der Geraden abgehängt. Hannah ins Auto und los. Daniel und Lena ins Auto und los. Radio Ö3 hilft dann ein bisschen, um im Tempo des Tages anzukommen. Ich sollte vor den Nachrichten um acht in der Schule sein. Verkehr wie immer. So viele Autos. Ich fuhr ein bisschen zu schnell, noch immer langsamer als die meisten. Ranfahren, stehen bleiben. „Nichts vergessen!“ Noch ein schneller Kuss und weg waren sie, zurück in ihrer Wirklichkeit.

Die Zeit verschmilzt Gegensätze und formt die Welt jeden Tag von neuem.

Die Nachrichten waren schon vorbei. Ich drehte das Radio ab, atmete einmal tief ein und wieder aus. Es war unerwartet unendlich still im Auto. Auch die Hunde im Kofferraum rührten sich nicht. Ich sah mich vor der Höhle sitzen. Ganz leise vernahm ich das Plätschern des Baches hinter der Höhle. Ich blickte hinauf, doch sah ich nur das Autodach von innen. „Wer bin ich?“ ... Die Hunde bellten auf einmal wie verrückt – eine ältere Dame mit Hand an der Leine, ebenfalls bellend, also der Hund, ging gerade vorbei. Ich startete den Motor, betätigte den linken Blinker, fuhr auf die Straße hinaus Richtung ‚daheim‘ und ließ den panischen Blick der älteren Dame hinter mir.

Ich sitze an unserem Wohnzimmertisch und schreibe, was Sie gerade gelesen haben. Doch wenn Sie das lesen, ist das alles schon fast nicht mehr wahr. Wer kann schon sagen, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist oder ob alles vielleicht noch gar nicht passiert ist? Vielleicht sind meine Kinder längst erwachsen und in unserem Haus leben schon ganz andere Menschen oder aber das Haus wird gerade erst gebaut, neben einer alten Höhle, der Eingang vollkommen verwachsen. Ein kleiner Bach plätschert im Hintergrund. Vielleicht hat der Adler längst ein Huhn gerissen – oder aber es gibt noch keine oder schon lange keine Hühner mehr dort. Doch wo ist diese alles aufsaugende und in Panik versetzende Bedrohung? Was zerstört? ... Ich sitze im Wald. Der Boden ist kühl, doch ich spüre das nicht lange. Wir verschmelzen, der Boden und ich. Wir werden eins. Zeit ist nicht relativ. Zeit ist beliebig.

Ihr
Georg Weidinger

Tipp zur Vertiefung: Georg Weidinger, ‚Der Goldene Weg der Mitte‘, Nova MD Verlag 2017.

 

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Dr. Georg Weidinger

Dr. Georg Weidinger

Georg Weidinger geboren 1968 in Wien, studierte Medizin an der Universität Wien, Doktorat 1995, Traditionelle Chinesische Medizin und Akupunktur (unter anderem bei Dr. François Ramakers, Prof. Dr. med. et Mag. phil. Gertrude Kubiena, Dr. Gunter R. Neeb), Diplom 2003, klassisches Klavier und Kompos...
Kommentare  
# eva 2019-11-15 11:40
Was für eine schöne Geschichte über das reale Leben, DANKE!
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