Dr. Günter Niessen ist Orthopäde, Physiotherapeut, Yogalehrer und Ayurveda-Mediziner – vor allem aber ein Mann, der nichts schönredet. Er steht mit einem Bein im Operationssaal eines norwegischen Krankenhauses und mit dem anderen auf der Yogamatte seiner Praxis in Berlin. Florian Reitlinger hat mit ihm über Licht- und Schattenseiten der Yogatherapie gesprochen.
Günter Niessen, aus welchen Gründen kombinierst du dein schulmedizinisches Wissen mit Yoga?
Schwierige Frage. Als Arzt wurde ich von Anfang an mit Verletzungen im Yoga konfrontiert und habe in der Rolle des Orthopäden und Physiotherapeuten nach Wegen gesucht, diese zu vermeiden. Ich wollte verstehen, warum sich Menschen im Yoga überhaupt verletzen können. Das war ein Aspekt. Der andere war, dass ich selbst erfahren habe, dass Yoga so viel Positives bewirkt. Auch wenn man im orthopädischen Sinne, also im Bewegungssystem, erkrankt ist. Ich bin auch heute noch ein bisschen hin- und hergerissen. Auf der einen Seite erlebe ich Yoga als Therapie – Yoga heilt, Yoga hilft. Auf der anderen Seite erlebe ich, dass Yoga verletzt. Vielleicht ist mein Beitrag zur Yogaszene, zu schauen, wie man unter medizinischen Aspekten gepaart mit dem gesunden Menschenverstand Yoga so praktizieren oder vermitteln kann, dass er eine rundum positive Wirkung hat. Der Versuch, das weiterzugeben, führte mich zu den Yogatherapiekursen, die ich gemeinsam mit Ganesh Mohan, Arzt und Ayurveda-Studierter, seit Jahren anbiete.
Wie definierst du Yogatherapie?
Viele Menschen wenden sich dem Yoga zu, wenn sie auf körperlicher, geistiger oder emotionaler Ebene ein Problem haben. Es reicht aber oft nicht, einfach nur Yoga in Verbindung mit einer Tradition zu üben. Es ist sinnvoller, ein Problem tatsächlich zu adressieren. Sobald sich ein Yogalehrer mit seiner Kompetenz, seinem Wissen damit auseinandersetzt und jemandem einen Weg zeigt, mit seiner Herausforderung umzugehen, ist es für mich therapeutisch.
Du bist Physiotherapeut, Orthopäde und unterrichtest Yoga. Welcher Stil ist – nach deinem Röntgenblick – für wen geeignet?
Ich habe in vielen verschiedenen Studios, in verschiedenen Stilen und Unterrichtsformen praktiziert. Ich tue das bewusst, um zu entdecken, was so gemacht wird. Es braucht einfach ganz viel Intelligenz und Intuition, eine Form des Yogaübens zu finden, die wirklich dem einzelnen Praktizierenden entspricht. Ich sehe immer wieder Leute, die sehr, sehr beweglich und akrobatisch sind und dann üben, noch beweglicher und akrobatischer zu werden. Oder Menschen, die steif und unbeweglich sind und an sitzende Traditionen geraten, in denen sehr viel meditiert wird. Das muss kein Nachteil sein, kann aber zu Rigidität, Überbeanspruchung und Verletzungen führen. Was für den einen Antrieb ist, sich überhaupt zu bewegen, ist für den anderen der letzte Schritt, den Tick zu weit zu gehen und sich zu verletzen. Unabhängig vom Yogastil ist es notwendig, mit Selbstvertrauen verschiedene Stile zu üben, verschiedene Lehrende auch innerhalb eines Stils anzuschauen, mit wachem, offenem Geist wahrzunehmen, wie man sich während und vor allem nach der Yogastunde fühlt. Was tut mir wirklich gut? Wo werde ich über meine individuelle Grenze hinausgepusht? Wenn man bei der Yogapraxis mehr auf seinen Bauch hörte, würden sowohl Lehrende als auch Schüler ehrlicher miteinander umgehen und sagen: „Hey du, ich glaube, es wäre gut für dich, zu einer anderen Gruppe, zu einem anderen Lehrer zu gehen.“ Mit hohem Blutdruck oder mit verletzter Hüfte kann eine sanftere Praxis viel zielführender sein. Umgekehrt soll der Teilnehmer dem betreffenden Lehrer sagen: „Es war nett, aber das ist nicht meins.“ So wie ich das erlebe, kommen die Leute dann gar nicht mehr zum Yoga oder sie beschreiten in ihrer Praxis einen Weg, der sie irgendwo hinführt, wo sie eigentlich gar nicht hin-möchten.
Wann und wie bist du selbst zum Yoga gekommen?
Willst du die Wahrheit hören? (Lacht.) Ende der 90er ist meine Frau zu ihrem ersten Yogakurs gegangen. Als sie zurückkam, war sie so beseelt, so gut drauf, dass ich das auch unbedingt machen wollte. Ich kannte das Wort „Yoga“ nicht. Ich war voll in Richtung Schulmedizin und Physiotherapie unterwegs. Dann nahm sie mich einfach beim nächsten Mal mit. Es gefiel mir so gut, dass wir daraufhin gemeinsam viele Kurse und Retreats besuchten, bis wir dann an den Punkt kamen, eine Ausbildung zu machen. Das war 2004. Ich kam also nicht aus eigenem Leid zum Yoga – eher aus Neid, weil es meiner Frau so gut dabei ging (lacht).
Welche Yogaausbildung hast du gemacht?
Ich habe 2009 beim BDY (Berufsverband der Yogalehrenden in Deutschland, Anm. der Redaktion) ein sogenanntes „Kontaktstudio“ belegt. Damals konnte man bei verschiedenen Yogaschulen an Wochenenden Kursstunden sammeln, um die Ausbildung modular zusammenzustellen. So konnte man z.B. die Anatomie in Köln oder die Philosophie in Berlin studieren. Wenn die vorgegebene Stundenanzahl erreicht war, wurde die Abschlussprüfung dann direkt beim BDY abgelegt. Das dauerte vier Jahre – für mich und meine Frau perfekt, denn es wäre neben unserem Berufsleben gar nicht anders gegangen. Wir waren nie an eine bestimmte Schule gebunden und konnten überall hineinhören. So haben wir u.a. Uwe Bräutigam oder Anna Trökes kennengelernt. Das brachte uns ein breites Spektrum, aber nie das Gefühl einer Verankerung in einer Tradition, was uns auch ein bisschen fehlte. Wir hatten so viel Unterschiedliches gesehen und fühlten uns etwas orientierungslos.
Günter Niessen
Wann hast du dann deine Wurzeln im Yoga entdeckt?
Als ich mit den Mohans in Verbindung kam. Da fand ich dann eine klare Richtung. Ich bin gleich nach Indien gefahren zu A.G. und Indra Mohan und habe ihren Sohn Ganesh kennengelernt. Damit bekam Yoga dann wirklich einen Sinn für mich.
Was war der Grund für deine erste Reise nach Indien?
Das erste Mal waren wir auf Urlaub in Indien. Aber gleich nach der Yogaausbildung sind wir wieder hingefahren, um den Kurs „Yoga for Personal Transformation“ bei den Mohans zu besuchen. Daraus ist die Beziehung zu Ganesh gewachsen, mit dem ich bis heute das Therapiemodul meiner Ausbildung anbiete. Ein anderer Lehrer, den ich in dieser Zeit kennenlernen durfte, war Dr. Shrikrishna Bhushan Tengshe, bei dem ich über lange Jahre eine Pranayama lernte, was mich auch sehr stark geprägt hat. Ich glaube mit diesen Lehrern meinen eigenen Weg gefunden zu haben. Ich habe dann auch aufgehört, nur mehr im Krankenhaus zu arbeiten, um andere Dinge zu versuchen.
Du hast Yoga in Europa und in Indien gelernt. Wo liegen die Unterschiede? Muss ein Yogalehrer einmal in Indien gewesen sein?
„Muss“ ist sicher falsch, doch es ist allemal bereichernd zu erleben, wie in Indien Yoga praktiziert wird. Indien und Europa haben einander auch gegenseitig im Yoga beeinflusst, und man findet mittlerweile in Indien Yogakurse, wie man sie auch in Europa erleben kann. Ich denke jedoch, dass die Mehrheit derer, die in Indien praktizieren, mehr spirituellen Zielen und persönlicher Entwicklung nachgeht. In Europa wollen viele eher auf körperlicher Ebene praktizieren – schwitzen, fit bleiben, Workout machen. In Europa geht auch wirklich fast jeder zum Yoga – jung und alt, Leistungssportler und Prothesenträger. Es wird auch Yoga für jeden angeboten. So etwas gibt es in Indien eher nicht.
Als Orthopäde und Yogalehrer arbeitest du in zwei verschiedenen Universen – wie vereinbarst du das?
Jetzt geht’s ans Eingemachte (lacht). Meine Praxis ist ein kleiner Raum in Berlin – 20 m2 – mit Schreibtisch, Laptop und Yogamatte. Meine Arztpraxis ist als mehr die Matte ... und das bisschen Raum drumherum (lacht). Es kommen orthopädische Patienten zu mir, um sich beraten und behandeln zu lassen: mit konservativen orthopädischen Mitteln, ohne Operation. Ich versuche, den Großteil der Behandlung mit Yogatherapie zu bestreiten, indem ich mit ayurvedischen Grundideen und therapeutischen Anwendungen herangehe. So finde ich heraus, wie der Patient auf den richtigen Weg kommen kann. Ich begleite dann den Heilungsprozess über Wochen und Monate mit dem Ziel, dass der Patient lernt, sich selbst zu helfen. Das ist mein größtes Anliegen! Es gibt natürlich auch Grenzen bei der Yogatherapie, das ist klar. Diese Patienten schicke ich dann weiter zu Kollegen. Manchmal muss man auch operieren. Als Unfallchirurg und Orthopäde arbeite ich ein paar Tage im Monat nach wie vor so gerne weiter, weil mich das auch sehr befriedigt, Menschen mit Operationen zu helfen, wenn es denn nötig sein sollte. Seit fast zehn Jahren verbringe ich regelmäßig ein paar Tage im Monat in Norwegen in einem Krankenhaus. Mich erdet es zu spüren, dass ich dieses Handwerk beherrsche und schnelle Entscheidungen treffen muss, wenn Notfälle eingeliefert werden. Hier bin ich wach, zu hundert Prozent im Hier und Jetzt. Das bringt mich auch aus meinem Alltag als Yogatherapeut, wo ich mit Psychologie und Körperarbeit in der Eins-zu-eins-Arbeit mit Menschen auch sehr fordernde Momente erlebe. Würde ich nur mehr Yogatherapie praktizieren und unterrichten, ich glaube, ich würde dabei abheben. Das wäre nicht so gut für mich und für meine Patienten (lacht).
Würdest du Lehrenden und Teilnehmenden empfehlen, sich zumindest ansatzweise mit Yogatherapie auseinanderzusetzen?
Teilnehmenden würde ich das erst mal nicht empfehlen. Wo kein Leid, da kein Grund. Auch Yogalehrer müssen nicht unbedingt eine Yogatherapieausbildung machen. Dazu sollte man sich eher berufen fühlen. Therapeutisch tätig zu sein, ist nicht jedermanns Sache. Aber wenn man Menschen anbietet, sich ihrer Probleme anzunehmen, finde ich es verantwortlich, sich auch weiterzubilden. Für jeden Yogalehrer empfehle ich auf jeden Fall einen fundierten Einblick in ganz einfache medizinische Grunderkenntnisse. Es muss nicht viel sein. Wenn man die Basics beherrscht, kann man mit Yoga im Grunde nicht viel kaputt machen.
Was empfiehlst du unseren Lesern, wenn es darum geht, Yoga auch dann zu praktizieren, wenn sie von der Matte heruntersteigen?
Für diejenigen, die ein- bis zweimal die Woche an Yogastunden teilnehmen, ist vielleicht die einfachste Empfehlung, dass sie das Gefühl, das sie auf der Matte entwickelt haben, diesen Dialog mit sich, der sowohl auf der körperlichen als auch auf der emotionalen und geistigen Ebene stattfindet, mit in den Alltag zu nehmen. Und für Yoga auf der Matte betone ich noch einmal: Jeder darf, soll, ja muss spüren, ob das, was er tut, spürt und erlebt, auch wirklich das Seine ist. Wenn nicht, dann nicht – dann ist es ein anderer Weg. Und davon gibt es genug.
Was Sabine Ohly kommentiert, habe ich auch erfahren: der kapitalistische Zwang erfordert zu große Yogaklassen, die Lehrer können sich so nicht individuell kümmern, Verletzungen können passieren.
Yoga+Marktwirtschaft: geht nicht! „frown“-Emoticon
Was Sabine Ohly kommentiert, habe ich auch erfahren: der kapitalistische Zwang erfordert zu große Yogaklassen, die Lehrer können sich so nicht individuell kümmern, Verletzungen können passieren.
Yoga+Marktwirtschaft: geht nicht!
Sehr interessanter Bericht von Dr. Niessen
Aber In der Yogatherapie braucht/lernt man Zeit bzw. Geduld, Achtsamkeit für den Körper, und man muss sein Ego ein Stück weit an der Garderobe abgeben können. Dann kann sie viel bewirken!