Einen Tag achtsam sein, vom Aufwachen bis zum Einschlafen präsent im Moment, geht das? Ich starte den Selbstversuch, 16 Stunden Gegenwart. Die Kürbiskerne knistern, als unterhalten sie sich. Ich hebe die Frühstücksschale nah an mein Ohr und lausche der fremden Sprache auf meinem Hirsebrei.
Es duftet nach Zimt und warmen Äpfeln.Ich spüre die Morgensonne auf meinem Gesicht, die harte Holzbank unterm Po. Die Kerne knistern in die Stille, bis im Hof das Geräusch der Mistkübel laut wird, die über Pflastersteine rattern. Der kühle Löffel in meiner Hand. Ich höre mein Kauen und schmecke mehr, als ich in einem Moment denken kann: Ingwer, Zitrone, Nüsse, Kakao. Ich beiße auf einen bitteren Zitronenkern, der sich beim Auspressen in den Brei verirrt hat.
„Mist! Das habe ich gestern vergessen – im Geschäft Zitronen mitzunehmen. Hätte ich nur auf den Einkaufszettel geachtet. Ich will doch heute früh den Kuchen für Gesines Geburtstag backen. Zitronenschale ist das Geheimnis des feinen Bodens. Wie soll ich das zeitlich schaffen? Wenn ich jetzt gleich loslaufe, aufs Duschen verzichte? Ob der Asiate unten Zitronen hat? Kann ich meine Klientin verschieben?" Ich ärgere mich, während ich Varianten durchdenke und hastig mein Frühstück löffle. Stopp! Rausgerutscht aus der Achtsamkeit! Ich achte wieder auf das, was ist: Die Kürbiskerne sind still geworden. Die Heizung knarzt. Mein Rücken drückt gegen die Raufasertapete.
„Wie mache ich das mit dem Kuchen? Ob Gesine selbst einen backt? Wie viele Gäste kommen überhaupt? Warum bringen die keinen Kuchen mit?"
Erwischt!
Ein Schluck aus der warmen Tasse. Vor meinen Augen steigt der Dampf des Tees auf und kräuselt sich an der Wasseroberfläche. Ich spüre, dass ich satt bin, schiebe mein Frühstück beiseite und ziehe die Beine an. Der Blick über die Dächer, die Sonne blitzt zwischen den Wolken durch. Eine Sirene heult irgendwo.
„Sie wird enttäuscht sein, wenn ich nichts dabei habe. Zu meinem Geburtstag hat sie sich solch eine Mühe gemacht."
Unglaublich! Wie schnell ich weg bin aus der Gegenwart – davongetragen von Gedanken, die voraushasten oder zurückblicken. Da habe ich mir ja was vorgenommen mit meinem Experiment: Einen Tag achtsam sein – vom Aufwachen bis zum Einschlafen präsent im Moment. Kein Problem, dachte ich bei der Redaktionskonferenz für Ursache&Wirkung. Jetzt bin ich erst eine Stunde wach und schon zigmal abgeschweift. Ich habe eine Liste angelegt, auf der ich eintrage, wann ich mit welchen Gedanken aus der Gegenwärtigkeit rutsche. Wobei das Aufwachen noch gar nicht mitgezählt ist. Das war ein einziges Abschweifen, Tagträumen, wieder einschlafen, mit skurrilen Bildern, die sich wie Märchen an mein Leben anspinnen.
Nach dem Aufstehen sitze ich eine Viertelstunde und meditiere. Interessant, dass ich heute kein einziges Mal abschweife. Es fängt gut an! Der Weg zum Badezimmer, der Teppichboden unter den nackten Sohlen. Beim Zähneputzen spüre ich die Borsten an der Zunge kitzeln. Ich sehe die Barthaare im Waschbecken und denke an meinen Freund, der sich gestern früh hier rasiert hat.
„Wieso macht er nicht sauber? Bestimmt steht auch die Espressokanne noch benutzt neben dem Herd. Was denkt er sich? Dass ich ihm hinterherputze? Der Kaffeesatz wird schimmeln in ein paar Tagen. Wie wird das bloß, wenn wir zusammenziehen? Ärgere ich mich dann jeden Tag über etwas? Die leere Klopapierrolle lässt er auch einfach liegen und fängt eine neue an. Macht er das zu Hause genauso? Wo ist der Respekt und die Achtsamkeit?"
Ups! Wer ist hier nicht achtsam? Eintrag in meine Liste: 7.34 Uhr – eine Menge ärgerlicher Gedanken an Martins Spuren in meiner Wohnung.
Währenddessen hatte ich, ohne es bewusst zu tun, mein Gesicht gewaschen, abgetrocknet, eingecremt und das Bad verlassen. Interessant, wie meine ‚Selbststeuerung' funktioniert und Routinen erfüllt, während ich in Gedanken bin. Bis zum Moment mit den Kürbiskernen auf der Küchenbank protokolliere ich noch viele unfreiwillige Gedankenausflüge, obwohl ich mich bemühe, beim Kochen bewusst zu bleiben. Ich schneide die Zutaten aufmerksam, beobachte alle Phänomene, die dabei entstehen: das Wasserplätschern, das Brodeln im Topf, Dampfgebilde, Geschirrklappern. Trotzdem drängen sich blitzschnell Gedanken dazwischen – an meinen Vater, an ausstehende
Honorarnoten, den Orgasmus von gestern Abend, die Klientin heute, an meinen Handyvertrag, eine schwangere Freundin, die Angst vor Mehlmotten, ein erinnertes Kuchenrezept und meinen Ex-Freund. Bis ich jedes Mal wieder wie aus einem Traum in der Gegenwart erwache und bemerke, dass ich routiniert und unachtsam mein Frühstück koche.
Etwa 60.000 Gedanken sollen einem Menschen pro Tag durch den Kopf gehen, habe ich in einem Wissenschaftsmagazin gelesen. Heute glaube ich dieser Zahl. Was mir beim Meditieren schon gut gelingt, kann ich ins Tun kaum übertragen. Ständig reißt mein Strom der Achtsamkeit ab. Ich bin erschrocken, dass auch beim konzentrierten Arbeiten, beim Telefonieren mit einem Kollegen, beim Schreiben für mein Buch und sogar beim Coaching mit einer Klientin die Liste länger wird. Im Coaching mache ich unauffällig Striche, wenn ich abgerutscht bin. Die ausführliche Liste habe ich schon aufgegeben – es wären zu viele Einträge, um mein Tagwerk zu tun. Das hatte ich mir anders vorgestellt.
Immerhin – das Coaching war meine achtsamste Phase am ganzen Vormittag. Auch beim Mittagessen gelingt es mir, fast durchgehend präsent zu sein. Die Fülle an Reizen für meine Geschmacksnerven hilft dabei. Zum Nachtisch meditiere ich – eine Wohltat, nur zu sitzen. Das zweite Coaching. Ich achte darauf, mit meinem Gegenüber in Kontakt zu sein. In innerer Verbindung mit einem Menschen gelingt mir Präsenz am leichtesten. Ich genieße die Ruhe und Gelassenheit, die sich in mir ausbreiten, wenn ich gegenwärtig bin. Anders als meine dauernden Denk-Spaziergänge, die neben guten auch viele unangenehme Gefühle wachrufen wie die Kuchen-Hektik am Morgen und der Ärger über meinen Freund. Wenn ich im Moment bin, löst sich all das auf und macht Platz für meine Neugier an Phänomenen, die überall zu beobachten sind. Die Kleidung, die ich auf der Haut spüre, der Atem, der durch meine Nase strömt, Gerüche, die sich ständig verändern.
Am Abend kommt mein Freund. Ich bleibe an der Tür stehen und umarme ihn lange. Nicht nur mein Körper steht jetzt bei ihm, auch meine Bewusstheit bleibt dabei. Wir bereiten das Essen vor und ich versuche, zugleich im Reden und im Kochen präsent zu sein. Es ist leichter, wenn wir uns über das Tun unterhalten. Meine Strichliste habe ich mittlerweile auch aufgegeben. Ich hätte über tausend Eintragungen machen müssen. Die Menge war so frustrierend, dass ich nur noch innerlich Haken mache, wenn ich es bemerke.
Wir liegen im Bett und streicheln uns.
Ah!
Ich speichere ab: etwa vier Minuten Gedanken über das Seminar morgen, während Martin mich zärtlich und erregt streichelt und ich ihn wahrscheinlich eher mechanisch berührt habe. Nach dem Liebesspiel ist mir peinlich, wie oft ich geistig weg war. Ich verziehe mich mit meiner Scham aufs Klo, damit mein Freund nicht merkt, was mich beschäftigt. Mehr als zehnmal habe ich mich bei geistigen Spaziergängen ertappt.
„Die Wäsche muss ich noch aufhängen." „Das war so gut gelungen heute im Coaching." „Habe ich den Wecker schon gestellt?" „Ob es morgen regnet und ich das Auto brauche?" ...
Erst am Ende, kurz vor meinem Orgasmus, war die Erregung so stark, dass ich mit allen Sinnen dabei war. Ob es Martin auch so geht?
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 82: „Achtsamkeit"
Vor dem Einschlafen sitze ich noch eine Viertelstunde auf meinem Kissen. Diesmal gelingt mir auch die Meditation nicht mehr. Erschrocken rutsche ich immer wieder ins Nachdenken über meine unachtsame Sexualität. Ich stelle mir die endlos lange Unachtsamkeitsliste dieses Tages vor, als ich mich ins Bett lege. Anstatt weiter darüber nachzusinnen, lasse ich los und spüre die weiche Decke, die warme Matratze unter mir. Ich achte auf meinen Atem, der ruhiger wird, und lausche Martins leisem Schnarchen. Ich genieße die Ruhe und Leere, die sich ausbreiten und ...
Dann muss ich eingeschlafen sein.
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