Hier finden Sie einen Auszug von "Der Habichtruf im Frühling" von Andreas Weber, aus Ursache\Wirkung №. 128: „Verbundenheit".
Die Natur als unbelebt, also bloßes Objekt zu verstehen, ist die Ursache für zerstörerisches Tun. Für Andreas Weber sind Flüsse, Bäume und Vögel Leben, das fühlt. Im Sinn eines modernen Panpsychismus sollten wir das Leben schützen.
Wenn ich im Frühling in meinen Wald gehe, der gleich hinter dem S-Bahnhof beginnt, halte ich zwischen den ersten hellgrün blühenden Ahornbäumen inne. Durch das Laub am Boden ist der Lerchensporn hervorgebrochen und bildet blassviolette Seen aus Licht. Ich bitte den Wald um ein Willkommen, ersuche ihn darum, dass er mir Lebendigkeit schenke, und verspreche im Gegenzug, all meine Kräfte für das Leben einzusetzen.
Wenn ich allein bin, spreche ich meine Bitte laut aus. Begleitet mich ein Bekannter, bleibe ich oft bloß still am Eingang in der Halle der Stämme stehen. Vor ein paar Tagen unternahm ich diesen Gang mit jemandem, der laut darüber nachdachte, wie unsere Kultur die Rechte der Natur berücksichtigen könne. Es sprudelte aus meinem Begleiter nur so heraus. Meine Pause am Übergang zum Reich der Bäume und des Lerchensporns machte ihn ungeduldig.
Während ich schwieg und er auch schweigen musste, bewegten sich die Spitzen der schlanken Ahornbäume in einem unsichtbaren Luftzug, baten zu einem langsamen Tanz im sinkenden Licht des Abends, in einem Himmel aus Blassblau und Violett, begleitet von fast unhörbarem Rauschen, wie ein Echo vom Ozean der Welt.
Nachdem wir eingetreten waren, begann das Gespräch erneut – nur um bald wieder unterbrochen zu werden. Ein Habicht gackerte seinen Begrüßungsruf, irgendwo linker Hand aus den hohen Eichenspitzen, verborgen von frischem Laub und knorrigem Geäst. Es war ein Männchen – deutlich kleiner als seine Partnerin. Wir sahen es schemenhaft durch die Bäume, wenn der Vogel kreischend seine Warte wechselte. Das Brutpaar zieht seit Jahren hier in seinem Horst in einer Hunderte Jahre alten Eiche seinen Nachwuchs flügge.
Oft, wenn ich den Wald betrete, folgt mir der Habicht wie ein Geist, ruft unsichtbar von einem nahem Ast, lässt an Sonnentagen plötzlich seinen Flugschatten über mich hinweggleiten, um mir zu zeigen: Ich sehe dich, auch wenn du mich nicht bemerkst, ich weiß, wo du bist.
Unser Gespräch – oder vielmehr der Monolog meines Begleiters und meine eher einsilbigen Antworten – wurde durch den Greifvogel immer wieder unterbrochen. Während der Mensch an meiner Seite philosophische Systeme daraufhin abklopfte, welche rationalen Argumente sie ihm für seine Anstrengung um die Rechte der Natur geben könnten, schrie ebendiese Natur in Gestalt eines wilden Habichts, folgte uns durch die Äste, überholte uns, setzte sich erneut auf einen Baum und rief wieder ihren Habichtsruf, der wie ein psychedelisches Lachen klang.
Wir verleugnen unser Fühlen und finden eine Welt ohne Lebendigkeit.
Wir verleugnen unser Fühlen.
Während ich meinem Begleiter wortkarg antwortete, antwortete ihm die Natur selbst. Aber er wusste es nicht. Er rang weiter nach Beschreibungen und Referenzen. Dabei brauchten wir nur zu horchen. Wir mussten nur unsere menschliche Stimme verstummen lassen, die Erklärungen und Konzepte hat, und lauschen. Wir mussten nur einsehen, dass wir es nicht besser wissen als der Habicht, der Ahorn, der Lerchensporn, der blauviolette Himmel des Aprilabends, den langsam die Leere der herannahenden Nacht aufsog.
Für uns Angehörige einer Kultur, die das Unbelebte zum Maß der Dinge gemacht hat, ist es schwer, zu lauschen, unser vorgebliches Wissen einmal abzulegen. Wir scheuen uns, einfach nur da zu sein, zu atmen, mit unseren Sinnen aufzunehmen, was ist. Wir zögern, uns unserer Gefühle gewahr zu werden, für die nichts je nur ein Ding ist, sondern immer alles Bedeutung. Ein Habichtruf unter dem Abendhimmel des Frühlings, das ist eine Szenerie mit vielen Gefühlen und Stimmungen.
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Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 128: „Verbundenheit"
Die meisten von uns fühlen diese Gefühle auch – ja, darum gehen wir an Frühlingsabenden unter Bäume, in den Park, öffnen die Fensterflügel der Stadtwohnung hinter den Lindenästen, damit die melodischen Kaskaden der Amsel ins Zimmer dringen können. Aber wenn wir über das, woran wir gerade teilhaben, sprechen sollen, erstarren wir. Wir verleugnen unser Fühlen. Wir suchen nach Konzepten, Argumenten, Beweisen – und finden nur Totes: Dinge, Atome, Materie, Optimierung, Effizienzsteigerung, Fortschritt, Dominanz. Wir finden eine Welt ohne Lebendigkeit.
Angehörige traditioneller Gesellschaften – Indigene, Mitglieder animistischer Kulturen – sehen dieses westliche Verlorensein mit Entsetzen, Mitleid und Verwunderung. Mit Entsetzen, weil animistische Gesellschaften darunter leiden, als bloße Dinge angesehen und mit der Natur, in der sie leben, vernichtet zu werden. Mit Mitleid, weil sie sehen, dass der Seelenzustand, der die Welt als reine Verdinglichung wahrnimmt und sich selbst allein und isoliert als vielleicht einzige seelische Realität in dieser Wüste, ein Leidenszustand ist. Und mit Verwunderung, weil sie wissen, wie leicht es wäre, aus dieser Verblendung in die Gesellschaft des Seins zu erwachen, in der nichts tot ist, in der alles miteinander in einem unüberschaubaren Ganzen das gleiche Leben atmet.