Leserbrief zum Artikel von Karl-Heinz Brodbeck ‚Geheimnisvolle Buddha-Natur‘ von Rainer Spallek.
Da hat Karl-Heinz Brodbeck einen guten, tief reflektierten Beitrag geschrieben zu seinem Verständnis der Buddhaschaft in einem jeden, über Bewusstsein und Leerheit. An einigen Stellen möchte man rufen: „Ja, so ist es!“ Doch eine Sache kommt meines Erachtens in vielen Beiträgen ähnlicher Art zu kurz: das Nirvana im Samsara oder die stille, tiefe Erkenntnis im lauten, rasenden Alltag. Da hilft es mir wenig, wenn ein Nagarjuna da keinen Unterschied erkennen kann.
Um uns wimmelt es von Leben, wir sind Teil davon und müssen irgendwie – idealerweise mitfühlend und gelassen – mit den vielen alltäglichen Herausforderungen klarkommen. Brodbeck verwendet wunderbare Begriffe, Worte, Gedanken: aber wo ist der Alltag? Der nimmt keine Rücksicht auf buddhistische Weisheiten. Brodbeck war einmal Professor für Wirtschaftswissenschaften: Na, Buddhismus und Kapitalismus, das ist doch mal eine spannende Begegnung! Wer gewinnt, verliert, weder noch? War Brodbeck in einer Hochschule tätig? Konnte er die beiden -ismen voneinander trennen oder zusammenführen? Unis sind in der Regel akademische Schutzräume, ähnlich wie Klöster oder buddhistische Zentren. Trefflich lassen sich in Schutzräumen kluge Gedanken formulieren, meditieren – womöglich umgeben von ergebenen Anhängern, die einen den Kontakt mit dem Alltag außerhalb der Schutzräume reduzieren helfen.
Aber was, wenn ich, ausgerüstet mit erbaulichen, tiefschürfenden Gedanken und Worten, unmittelbar auf die Realität draußen treffe, so wie sie nun einmal ist? Wie sich dann bewähren in einer leistungskranken Konkurrenzgesellschaft, jeden Tag, ständig? Ja okay, unsere Allverbundenheit, unser Interbeing sollte Dankbarkeit, Rücksichtnahme, Mitgefühl hervorrufen; wunderschön wäre es, in einer solchen Gesellschaft zu leben. Aber! Der Ex-Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann meinte mal im SPIEGEL sinngemäß: Wir könnten alle kürzertreten, genügsamer werden, mehr Liebe zulassen, aber dann werden wir völlig lieblos von der Konkurrenz überrollt.
Der Fall Tanja Singer! Die Professorin leitete ab 2013 am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig eine Langzeitstudie. Laien wurden intensiv trainiert mit östlichen und westlichen Methoden der Geistesschulung. Das Projekt zielte unter anderem darauf ab, mehr geistige Klarheit zu erlangen – und Verständnis und Mitgefühl zu kultivieren. Und nun ist in DIE ZEIT von ihrem Scheitern zu lesen: „Dass die bekannteste Empathieforscherin ausgerechnet wegen fehlender Empathie ihren Posten räumen muss, ist nicht nur menschlich tragisch; der Fall lehrt auch etwas über die Umsetzung meditativer Einsichten in die Praxis.“
Singer trat immer für mehr Mitgefühl in der Gesellschaft ein und gegen mitgefühllosen Konkurrenzkampf. Doch im eigenen Wissenschaftsbetrieb versagte sie: „Mitarbeiter klagten über Schikane, Mobbing, über ein Klima der Angst; sie habe geschrien und gedroht.“ Ihre Mitarbeiter wurden zu Opfern ihres intoleranten, rücksichtslosen, wohl auch karrieregetriebenen Verhaltens; wie auch sie Opfer wurde einer von Druck, Eitelkeit und Wettbewerb bestimmten Wissenschaftswelt. Was muss sie alles verdrängt haben, dass sie sich so aus den Augen verlieren konnte?
Das führt mich zur Frage – war’s Adorno? –, ob es möglich sei, ein richtiges im falschen Leben zu führen? Singers Projekt war besonders, verursachte Aufmerksamkeit. Man schaute darauf, sowohl Wissenschaftler wie auch spirituell inspirierte Menschen. Man hoffte auf einen Durchbruch, dass eine flüchtige, tempogetriebene, stressgeplagte Gesellschaft allmählich zur Besinnung käme (die Hoffnung bleibt, erste Ergebnisse des Projekts geben Anlass zur Hoffnung). Doch zeigt Singers Fall (in des Wortes doppelter Bedeutung), dass das falsche Leben ihr richtig gemeintes subversiv korrumpierte. Ihr Ansatz ist absolut richtig: Geistes- beziehungsweise Bewusstseinsschulung u n d Systemkritik. Wer nur buddhistisch beziehungsweise spirituell reflektiert und meditiert, genügt sich selbst, schlummert in der Blase, gefangen im Ego-Kampf.
Das im Kern Weisheit und Mitgefühl unterdrückende beziehungsweise das materialistisch-egoistische Denken fördernde Gesellschaftssystem – aktuellstes Stichwort: digitaler Kapitalismus – muss wahrgenommen und kritisiert werden. Tanja Singer war auf einem guten Weg. Eine Ignoranz des herrschenden Systems schafft zu viele Opfer und um jedes Opfer ist es zu schade; vor allem dann, wenn es ein Kernproblem unseres Daseins erkannt hat und dagegen anzugehen versucht. Ihr Beispiel sollte nicht entmutigen.
Antwort von Karl-Heinz Brodbeck zum Leserbrief von Rainer Spallek
Der Verfasser des Leserbriefs macht einige Bemerkungen zu meinem Beitrag ‚Die geheimnisvolle Buddha-Natur‘ (U\W 105/2018). Er nennt seine Überlegungen ‚Dualität von Lehre und Leben‘ und spricht so seinen zentralen Denkfehler damit gleich als Überschrift aus. Er kommt zu dem Ergebnis: „Doch eine Sache kommt meines Erachtens in vielen Beiträgen ähnlicher Art zu kurz: das Nirvana im Samsara oder die stille, tiefe Erkenntnis im lauten, rasenden Alltag. Da hilft es mir wenig, wenn ein Nagarjuna da keinen Unterschied erkennen kann.“ Der Schreiber betont hier den Unterschied und ‚weiß‘, anders als Nāgārjuna, was Samsāra und Nirvāna ‚ist‘. Eigentlich bedarf dies keines Kommentars. Aber gut, wiederholen schadet nicht.
Das Nirvāna ist nicht ein Etwas, das irgendwo ‚zu kurz‘ kommen könnte. Der ‚laute, rasende Alltag‘ – nun, das ist eben Samsāra. Die Erleuchtung ist nicht wie eine Kirche in einer lärmenden Stadt ein besonderer Ort. Was wir im Alltag erfahren, das ist Samsāra, aber eben auch die Leerheit (Nirvāna): „Dies, dass alle Phänomene gegenseitig abhängig sind, dass sie immer nur eine geliehene Identität besitzen, dass sie von anderen Phänomenen mit gleichfalls geliehener Identität abhängen, das ist die Leerheit aller Phänomene.“ (U\W 105, Seite 53) Was heißt das? Man kann den Alltag erleiden, ist gezwungen, in all der Vergänglichkeit immer wieder loszulassen – am Ende todsicher. Letztlich beruht alles Ergreifen und wieder Loslassen-Müssen aber auf der Vorstellung, man habe ein unabhängiges Ich und die Dinge seien aus sich ‚die Realität‘. Wenn der Leserbriefschreiber sagt: „Aber was, wenn ich, ausgerüstet mit erbaulichen, tiefschürfenden Gedanken und Worten, unmittelbar auf die Realität draußen treffe, so wie sie nun einmal ist?“ Zu glauben, dass ‚die‘ Realität ‚draußen‘ ist, mit sich identisch, ‚wie sie (!) nun einmal ist (!)‘ – nun, das zu widerlegen war der ganze Sinn meines Textes. Wer das glaubt, leidet – an sich selber und an der vermeintlich seienden Realität. Ebendas zu erkennen, schrittweise als Leben zu verwirklichen, die Ellenbogen einzuziehen, Mitgefühl zu entfalten, achtsam und freundlich zu sein – das ist die lebendige Buddha-Natur inmitten von Samsāra. Sicher, man kann an eine Realität ‚da draußen‘ im Gegensatz zum eigenen Ich-Territorium glauben. Schade. Dann muss man die Wahrheit der gegenseitigen Abhängigkeit und Vergänglichkeit eben nur blind erleiden, als ‚Realität‘. Wenn man wie der Leserbriefschreiber fragt: „Wie sich dann bewähren in einer leistungskranken Konkurrenzgesellschaft, jeden Tag, ständig?“ –, dann hat man noch ein sehr großes Stück Weg der Erkenntnis vor sich. Denn ‚sich bewähren müssen‘ nämlich heißt: Ein Ego-Territorium verteidigen.
Ja, wie lebt man also in dieser Welt aus dem Geist des Buddhismus? Wie gesagt: Wer erkennt, dass er keine Ich-Insel ist neben und getrennt von ‚der Realität da draußen‘ – das zu glauben heißt ja im Buddhismus gerade ‚Verblendung‘ –, der kann sich als ersten Schritt an die Empfehlung halten, die in meinem Beitrag so ausgesprochen wurde: „Insofern ist der wahre Ausdruck der Buddha-Natur – ihre verbindende Offenheit – das Mitfühlen mit allen anderen Lebewesen.“ (U\W 105, Seite 53) Das ist das Gegenteil eines Kotaus vor der ‚leistungskranken Konkurrenzgesellschaft‘. Weil alles gegenseitig abhängig ist, deshalb kann man immer – mittendrin – auch diese Abhängigkeit verändern, ein wenig, aus Mitgefühl (= engagierter Buddhismus). Und so bemerkt man schrittweise die Leerheit der eigenen Ich-Illusion und erlernt so langsam die Einsicht in die Leerheit. Erfahren muss die Leerheit jeder – sei es als Loslassen-Müssen oder als Übung des Mitgefühls, der Achtsamkeit (eine Embryoform der Buddha-Natur) und des Erkennens. Deshalb endet mein Text auch so: „Ein Unterschied besteht nur darin, ob wir loslassen ‚müssen‘ oder das Loslassen ‚tun‘.“ Der Leserbriefschreiber hat diesen Aspekt meines Textes leider weder rezipiert noch kommentiert. Er zieht statt eines Sacharguments ein argumentum ad personam vor: „Brodbeck verwendet wunderbare Begriffe, Worte, Gedanken: aber wo ist der Alltag? Der nimmt keine Rücksicht auf buddhistische Weisheiten. Brodbeck war einmal Professor für Wirtschaftswissenschaften: Na, Buddhismus und Kapitalismus, das ist doch mal eine spannende Begegnung! Wer gewinnt, verliert, weder noch? War Brodbeck in einer Hochschule tätig? Konnte er die beiden -ismen voneinander trennen oder zusammenführen? Unis sind in der Regel akademische Schutzräume, ähnlich wie Klöster oder buddhistische Zentren. Trefflich lassen sich in Schutzräumen kluge Gedanken formulieren, meditieren – womöglich umgeben von ergebenen Anhängern, die einen den Kontakt mit dem Alltag außerhalb der Schutzräume reduzieren helfen.“
So viele falsche Sätze, die alle doch nur eines sagen: ICH weiß es besser als dieser Professor in seinen Schutzräumen. Ich spreche sonst nicht über mich, aber so ‚freundlich‘ angesprochen, hier einige schlichte Tatsachen zu meinem Leben. Erstens formuliere ich keine Gedichte, sondern schreibe gerade über den Alltag – viele meiner Beiträge in U\W handeln genau davon. Ich erwarte nicht, dass der Leserbriefschreiber weitere Texte von mir gelesen hat; doch sollte man dann nicht im Urteil über eine Person besser schweigen und sich vorab informieren? Eines meiner Bücher trägt den Titel ‚Buddhistische Wirtschaftsethik‘, das zum Beispiel auf Amazon von einem Leser so kommentiert wird: Ein Buch, ‚um aus buddhistischer Sicht die Ursachen der überhitzten Wachstumswirtschaft zu verstehen (…); eine erhellende Einführung in die Grundlagen der Buddhistischen Philosophie und ihre Anwendung auf unsere moderne Welt‘. Irgendwie passt das nicht so ganz zum Vor-Urteil des Leserbriefschreibers; täusche ich mich? Zweitens fantasiert sein Text etwas über mein Leben und das Leben an einer Hochschule, das von Vorurteilen und Nichtwissen leider überquillt. ‚Buddhismus und Kapitalismus‘ begegnen sich nicht als -ismus, schon gar nicht als Kampf mit Sieg und Niederlage. Der Wettbewerbsalltag im Kapitalismus folgt also nicht der buddhistischen Ethik? Oh je! Wer konnte das – vor dem Leserbriefschreiber – auch nur ahnen? Buddhismus ist – und vor allem – eine Methode der Erkenntnis. Und wie man dies zur Erkenntnis des Kapitalismus umsetzt, das kann man auf einigen tausend Seiten in vielen meiner Texte nachlesen. Drittens sind Universitäten keine akademischen Schutzräume wie Klöster. Es mag für jemanden wie den Kritiker neu sein, aber: Universitäten sind auch Samsāra! Um darin forschen und lehren zu können, hat jeder einen langen Weg hinter sich. Persönlich angesprochen, bemerke ich kurz: Ich habe vier Jahre in der Industrie, teils als Elektroingenieur, gearbeitet. In sehr jungen Jahren auch in Akkordarbeit am Fließband. Achtzehn Monate habe ich behinderte Kinder rund um die Uhr betreut in einer Einrichtung namens ‚Helfende Hände‘ (München). Viele Jahre habe ich unter anderem an einer Reform der Finanzmärkte mitgearbeitet mit einer Firma in Österreich, mit der wir ökologische und sozialere Anlageformen entwickelt und empfohlen haben. Über viele Jahre habe ich bei der Fairness-Stiftung in Frankfurt Firmen mitbetreut; wir haben gute ethische Praxis auch mit einem Fairness-Preis geehrt (für den übrigens in einem Fall auch Tanja Singer die Laudatio hielt). Das sind – neben vielen anderen – meine Alltagserfahrungen im Kapitalismus vor und während meiner Professur an Unis. Dies als Pflege buddhistischer Weisheiten jenseits der ‚Realität‘ des Kapitalismus in den Schutzräumen der Uni zu bezeichnen ist dann doch wohl ein klein wenig – nun sagen wir mal: daneben. Ich kann dem Leserbriefschreiber aber Geduld beim Erkennen und weiterhin die Lektüre von U\W sehr empfehlen. Ansonsten würde ich vorschlagen, Immanuel Kants Abhandlung ‚Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis‘ zu konsultieren. Da finden sich zu seiner festgehaltenen Dualität von ‚Lehre und Leben‘ gänzlich jenseits des Buddhismus viele erhellende Gedanken. Die Buddha-Natur hinterließ auch schon im Jahre 1793 in der ‚Berlinischen Monatsschrift‘ ihre Spuren.
Den Artikel 'Geheimnisvolle Buddha-Natur' finden Sie hier.